[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.Die Geschichte sahe, so war es, als wenn an ihren Augenliedernein Gewicht hinge, und sie sahe mich nie an. Mein Vater saß halb zur Seite in seinem Lehn- Stuhl, damit er mich nicht ansesehen dürfte, und hob die gefaltnen Hände bald auf, bald nieder. Al- le Finger des armen Mannes waren in Bewe- gung, als wenn es ihm bis unter die Nägel krib- belte. Meiner Schwester schwollen alle Adern auf; mein Bruder sahe mich mit einer verächtli- chen Mine an, und maß mich mit seinen Augen von Haupt bis auf die Füsse so bald ich in den Saal trat. Meine Baase war auch da; mich dünckte, ich konte in ihren Augen eine Gütigkeit lesen, die sie gerne verstecken wollte. Sie blieb sitzen, und neigete sich gantz kaltsinnig gegen mich. Darauf wieß sie mit den Augen auf meinen Bru- der, und auf meine Schwester. Dis erklärte ich so, als wollte sie mir die Ursach ihres ungewöhn- lichen Betragens zu verstehen geben. Bewahre GOtt! mein Schatz, warum suchten sie ein Hertz, das bisher nie für eigensinnig oder knech- tisch gehalten ist, mehr durch Furcht als durch Liebe zu bewegen? Jch setzte mich auf meinen Stuhl nieder. Soll Nein! hieß es. Eine kurtze Antwort, in Ei- mir
Die Geſchichte ſahe, ſo war es, als wenn an ihren Augenliedernein Gewicht hinge, und ſie ſahe mich nie an. Mein Vater ſaß halb zur Seite in ſeinem Lehn- Stuhl, damit er mich nicht anſeſehen duͤrfte, und hob die gefaltnen Haͤnde bald auf, bald nieder. Al- le Finger des armen Mannes waren in Bewe- gung, als wenn es ihm bis unter die Naͤgel krib- belte. Meiner Schweſter ſchwollen alle Adern auf; mein Bruder ſahe mich mit einer veraͤchtli- chen Mine an, und maß mich mit ſeinen Augen von Haupt bis auf die Fuͤſſe ſo bald ich in den Saal trat. Meine Baaſe war auch da; mich duͤnckte, ich konte in ihren Augen eine Guͤtigkeit leſen, die ſie gerne verſtecken wollte. Sie blieb ſitzen, und neigete ſich gantz kaltſinnig gegen mich. Darauf wieß ſie mit den Augen auf meinen Bru- der, und auf meine Schweſter. Dis erklaͤrte ich ſo, als wollte ſie mir die Urſach ihres ungewoͤhn- lichen Betragens zu verſtehen geben. Bewahre GOtt! mein Schatz, warum ſuchten ſie ein Hertz, das bisher nie fuͤr eigenſinnig oder knech- tiſch gehalten iſt, mehr durch Furcht als durch Liebe zu bewegen? Jch ſetzte mich auf meinen Stuhl nieder. Soll Nein! hieß es. Eine kurtze Antwort, in Ei- mir
<TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0098" n="78"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Geſchichte</hi></hi></fw><lb/> ſahe, ſo war es, als wenn an ihren <choice><sic>Augenliebern</sic><corr>Augenliedern</corr></choice><lb/> ein Gewicht hinge, und ſie ſahe mich nie an.<lb/> Mein Vater ſaß halb zur Seite in ſeinem Lehn-<lb/> Stuhl, damit er mich nicht anſeſehen duͤrfte, und<lb/> hob die gefaltnen Haͤnde bald auf, bald nieder. Al-<lb/> le Finger des armen Mannes waren in Bewe-<lb/> gung, als wenn es ihm bis unter die Naͤgel krib-<lb/> belte. Meiner Schweſter ſchwollen alle Adern<lb/> auf; mein Bruder ſahe mich mit einer veraͤchtli-<lb/> chen Mine an, und maß mich mit ſeinen Augen<lb/> von Haupt bis auf die Fuͤſſe ſo bald ich in den<lb/> Saal trat. Meine Baaſe war auch da; mich<lb/> duͤnckte, ich konte in ihren Augen eine Guͤtigkeit<lb/> leſen, die ſie gerne verſtecken wollte. Sie blieb<lb/> ſitzen, und neigete ſich gantz kaltſinnig gegen mich.<lb/> Darauf wieß ſie mit den Augen auf meinen Bru-<lb/> der, und auf meine Schweſter. Dis erklaͤrte ich<lb/> ſo, als wollte ſie mir die Urſach ihres ungewoͤhn-<lb/> lichen Betragens zu verſtehen geben. Bewahre<lb/> GOtt! mein Schatz, warum ſuchten ſie ein<lb/> Hertz, das bisher nie fuͤr eigenſinnig oder knech-<lb/> tiſch gehalten iſt, mehr durch Furcht als durch<lb/> Liebe zu bewegen?</p><lb/> <p>Jch ſetzte mich auf meinen Stuhl nieder. Soll<lb/> ich Thee-Waſſer aufgieſſen, ſagte ich zu meiner<lb/> Mutter? Sie wiſſen, dies iſt ſonſt mein Amt.</p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Nein!</hi> hieß es. Eine kurtze Antwort, in Ei-<lb/> ner Sylbe. Sie nahm die Thee-Kanne ſelbſt;<lb/> Meine Schweſter wollte ihr helffen, aber mein<lb/> Bruder hieß ſie gehen, und ſagte, daß er das<lb/> Waſſer ſelbſt aufgieſſen wollte. Das Hertz kam<lb/> <fw place="bottom" type="catch">mir</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [78/0098]
Die Geſchichte
ſahe, ſo war es, als wenn an ihren Augenliedern
ein Gewicht hinge, und ſie ſahe mich nie an.
Mein Vater ſaß halb zur Seite in ſeinem Lehn-
Stuhl, damit er mich nicht anſeſehen duͤrfte, und
hob die gefaltnen Haͤnde bald auf, bald nieder. Al-
le Finger des armen Mannes waren in Bewe-
gung, als wenn es ihm bis unter die Naͤgel krib-
belte. Meiner Schweſter ſchwollen alle Adern
auf; mein Bruder ſahe mich mit einer veraͤchtli-
chen Mine an, und maß mich mit ſeinen Augen
von Haupt bis auf die Fuͤſſe ſo bald ich in den
Saal trat. Meine Baaſe war auch da; mich
duͤnckte, ich konte in ihren Augen eine Guͤtigkeit
leſen, die ſie gerne verſtecken wollte. Sie blieb
ſitzen, und neigete ſich gantz kaltſinnig gegen mich.
Darauf wieß ſie mit den Augen auf meinen Bru-
der, und auf meine Schweſter. Dis erklaͤrte ich
ſo, als wollte ſie mir die Urſach ihres ungewoͤhn-
lichen Betragens zu verſtehen geben. Bewahre
GOtt! mein Schatz, warum ſuchten ſie ein
Hertz, das bisher nie fuͤr eigenſinnig oder knech-
tiſch gehalten iſt, mehr durch Furcht als durch
Liebe zu bewegen?
Jch ſetzte mich auf meinen Stuhl nieder. Soll
ich Thee-Waſſer aufgieſſen, ſagte ich zu meiner
Mutter? Sie wiſſen, dies iſt ſonſt mein Amt.
Nein! hieß es. Eine kurtze Antwort, in Ei-
ner Sylbe. Sie nahm die Thee-Kanne ſelbſt;
Meine Schweſter wollte ihr helffen, aber mein
Bruder hieß ſie gehen, und ſagte, daß er das
Waſſer ſelbſt aufgieſſen wollte. Das Hertz kam
mir
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |