mir auf die Zunge. Jch wußte nicht, wie ich mich fassen solte. Was dachte ich, soll hieraus werden?
Bey der zweyten Tasse stund meine Mutter auf: Nur ein Wort allein meine Schwester, sag- te sie zu Frau Hervey, und faßte sie an die Hand. Meine Schwester verlohr sich auch, zuletzt mein Bruder, und so blieb ich allein bey meinem Va- ter. Er sahe so ernsthat aus, daß mir der Muth fehlete, als ich mir zwey oder drey mahl vornahm ihn anzureden, weil vorhin eine so grosse Stille ge- wesen war.
Endlich fragte ich ihn, ob er beföhle, daß ich noch eine Tasse einschenckte. Jch bekam nichts zur Antwort, als die eine verdrießliche Sylbe, die ich schon von meiner Mutter vorher gehört hatte. Er stand auf, und gieng in der Stube herum. Jch stand auch auf, und wollte mich zu seinen Füssen werffen; allein seine Ernsthaftigkeit setzte mich so in Furcht, daß ich ihm nicht einmahl dieses Zei- chen der kindlichen Liebe geben konnte, davon mein Hertz doch überfloß.
Das Podagra zwang ihn, sich an einen Stuhl zu lehnen. Hier nahm ich mir etwas mehr Muth: ich gieng zu ihm, und bat ihn, er möchte mir doch sagen, womit ich ihn beleidigt hätte. Er kehrte mir den Rücken zu, und sagte mit star- cker Stimme: Jch fodere Gehorsam Clarissa Harlowe! Jch antwortete, behüte GOtt! solt ich ungehorsam seyn? Jch habe mich noch niemahls ihrem Willen widersetzet.
Er
der Clariſſa.
mir auf die Zunge. Jch wußte nicht, wie ich mich faſſen ſolte. Was dachte ich, ſoll hieraus werden?
Bey der zweyten Taſſe ſtund meine Mutter auf: Nur ein Wort allein meine Schweſter, ſag- te ſie zu Frau Hervey, und faßte ſie an die Hand. Meine Schweſter verlohr ſich auch, zuletzt mein Bruder, und ſo blieb ich allein bey meinem Va- ter. Er ſahe ſo ernſthat aus, daß mir der Muth fehlete, als ich mir zwey oder drey mahl vornahm ihn anzureden, weil vorhin eine ſo groſſe Stille ge- weſen war.
Endlich fragte ich ihn, ob er befoͤhle, daß ich noch eine Taſſe einſchenckte. Jch bekam nichts zur Antwort, als die eine verdrießliche Sylbe, die ich ſchon von meiner Mutter vorher gehoͤrt hatte. Er ſtand auf, und gieng in der Stube herum. Jch ſtand auch auf, und wollte mich zu ſeinen Fuͤſſen werffen; allein ſeine Ernſthaftigkeit ſetzte mich ſo in Furcht, daß ich ihm nicht einmahl dieſes Zei- chen der kindlichen Liebe geben konnte, davon mein Hertz doch uͤberfloß.
Das Podagra zwang ihn, ſich an einen Stuhl zu lehnen. Hier nahm ich mir etwas mehr Muth: ich gieng zu ihm, und bat ihn, er moͤchte mir doch ſagen, womit ich ihn beleidigt haͤtte. Er kehrte mir den Ruͤcken zu, und ſagte mit ſtar- cker Stimme: Jch fodere Gehorſam Clariſſa Harlowe! Jch antwortete, behuͤte GOtt! ſolt ich ungehorſam ſeyn? Jch habe mich noch niemahls ihrem Willen widerſetzet.
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der Clariſſa.
mir auf die Zunge. Jch wußte nicht, wie ich
mich faſſen ſolte. Was dachte ich, ſoll hieraus
werden?
Bey der zweyten Taſſe ſtund meine Mutter
auf: Nur ein Wort allein meine Schweſter, ſag-
te ſie zu Frau Hervey, und faßte ſie an die Hand.
Meine Schweſter verlohr ſich auch, zuletzt mein
Bruder, und ſo blieb ich allein bey meinem Va-
ter. Er ſahe ſo ernſthat aus, daß mir der Muth
fehlete, als ich mir zwey oder drey mahl vornahm
ihn anzureden, weil vorhin eine ſo groſſe Stille ge-
weſen war.
Endlich fragte ich ihn, ob er befoͤhle, daß ich
noch eine Taſſe einſchenckte. Jch bekam nichts
zur Antwort, als die eine verdrießliche Sylbe, die
ich ſchon von meiner Mutter vorher gehoͤrt hatte.
Er ſtand auf, und gieng in der Stube herum. Jch
ſtand auch auf, und wollte mich zu ſeinen Fuͤſſen
werffen; allein ſeine Ernſthaftigkeit ſetzte mich ſo
in Furcht, daß ich ihm nicht einmahl dieſes Zei-
chen der kindlichen Liebe geben konnte, davon mein
Hertz doch uͤberfloß.
Das Podagra zwang ihn, ſich an einen Stuhl
zu lehnen. Hier nahm ich mir etwas mehr Muth:
ich gieng zu ihm, und bat ihn, er moͤchte mir
doch ſagen, womit ich ihn beleidigt haͤtte. Er
kehrte mir den Ruͤcken zu, und ſagte mit ſtar-
cker Stimme: Jch fodere Gehorſam Clariſſa
Harlowe! Jch antwortete, behuͤte GOtt!
ſolt ich ungehorſam ſeyn? Jch habe mich noch
niemahls ihrem Willen widerſetzet.
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/99>, abgerufen am 23.11.2024.
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