Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Geschichte
diente: allein sie drang darauf, daß ich ihr den
gantzen Brief vorlesen sollte. *

Meine
* Die Stelle, auf welche sich die Fräulein Howe
bezog lautet also:
"Erlauden Sie mir, gnädige Frau, Sie zu erin-
"nern, daß wenn Personen von Jhren Jahren
"und von Jhrer Erfahrung andern die Regel ge-
"ben wollen, daß sie auf die zukünftige Zeit sehen
"sollen, ihre Gütigkeit auch billig erfodert, daß sie
"in die vergangene Zeit zurück sehen, und den
"muntern Jugend-Jahren ihrer Kinder etwas zu
"gute halten, und mit ihrer allzu lebhaften Hoff-
"nung, der die Ueberlegung noch nicht die gebüh-
"renden Schrancken gesetzt, und die sich noch nie
"betrogen gesehen hat, Geduld haben. Alle Dinge
"scheinen uns zu Anfang, wenn wir güldene Ber-
"ge erwarten, und voller Hoffnung am Morgen
"unserer Tage aufgehen, viel anders, als wenn wir
"uns am Ende nach dem was vergangen ist um-
"sehen, und, nachdem wir uns in diesem Leben
"genug ermüdet haben, uns nach unserm ewigen
"Vaterlande sehnen. Alsdenn üderlegen wir erst,
"was für Hoffnungen uns fehl geschlagen sind,
"was für Mühe, was für Verdruß, was für Ge-
"fahr wir haben übernehmen müssen: wir machen
"alsdenn gleichsam emen richtigen Anschlag von
"dem wahren Werth des Vergnügens, das wir in
"viel geringerem Maaß genossen als gehoffet ha-
"ben. Blos die Erfahrung kan uns von dem
"grossen Unterscheid unserer vorher und nachher
"gemachten Rechnung überzeugen. Wenn wir
"nun das, was wir aus Erfahrung gelernt, denen
"die wir lieben beyzubringen wünschen, obgleich
"ihr Leben noch zu kurtz ist, als daß sie selbst die-
"se Erfahrung erlanget, und die Bitterkeit des Ver-
"gnü-

Die Geſchichte
diente: allein ſie drang darauf, daß ich ihr den
gantzen Brief vorleſen ſollte. *

Meine
* Die Stelle, auf welche ſich die Fraͤulein Howe
bezog lautet alſo:
„Erlauden Sie mir, gnaͤdige Frau, Sie zu erin-
„nern, daß wenn Perſonen von Jhren Jahren
„und von Jhrer Erfahrung andern die Regel ge-
„ben wollen, daß ſie auf die zukuͤnftige Zeit ſehen
„ſollen, ihre Guͤtigkeit auch billig erfodert, daß ſie
„in die vergangene Zeit zuruͤck ſehen, und den
„muntern Jugend-Jahren ihrer Kinder etwas zu
„gute halten, und mit ihrer allzu lebhaften Hoff-
„nung, der die Ueberlegung noch nicht die gebuͤh-
„renden Schrancken geſetzt, und die ſich noch nie
„betrogen geſehen hat, Geduld haben. Alle Dinge
„ſcheinen uns zu Anfang, wenn wir guͤldene Ber-
„ge erwarten, und voller Hoffnung am Morgen
„unſerer Tage aufgehen, viel anders, als wenn wir
„uns am Ende nach dem was vergangen iſt um-
„ſehen, und, nachdem wir uns in dieſem Leben
„genug ermuͤdet haben, uns nach unſerm ewigen
„Vaterlande ſehnen. Alsdenn uͤderlegen wir erſt,
„was fuͤr Hoffnungen uns fehl geſchlagen ſind,
„was fuͤr Muͤhe, was fuͤr Verdruß, was fuͤr Ge-
„fahr wir haben uͤbernehmen muͤſſen: wir machen
„alsdenn gleichſam emen richtigen Anſchlag von
„dem wahren Werth des Vergnuͤgens, das wir in
„viel geringerem Maaß genoſſen als gehoffet ha-
„ben. Blos die Erfahrung kan uns von dem
„groſſen Unterſcheid unſerer vorher und nachher
„gemachten Rechnung uͤberzeugen. Wenn wir
„nun das, was wir aus Erfahrung gelernt, denen
„die wir lieben beyzubringen wuͤnſchen, obgleich
„ihr Leben noch zu kurtz iſt, als daß ſie ſelbſt die-
„ſe Erfahrung erlanget, und die Bitterkeit des Ver-
„gnuͤ-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0128" n="122"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi></hi></fw><lb/>
diente: allein &#x017F;ie drang darauf, daß ich ihr den<lb/>
gantzen Brief vorle&#x017F;en &#x017F;ollte. <note xml:id="seg2pn_1_1" next="#seg2pn_1_2" place="foot" n="*">Die Stelle, auf welche &#x017F;ich die Fra&#x0364;ulein <hi rendition="#fr">Howe</hi><lb/>
bezog lautet al&#x017F;o:<lb/>
&#x201E;Erlauden Sie mir, gna&#x0364;dige Frau, Sie zu erin-<lb/>
&#x201E;nern, daß wenn Per&#x017F;onen von Jhren Jahren<lb/>
&#x201E;und von Jhrer Erfahrung andern die Regel ge-<lb/>
&#x201E;ben wollen, daß &#x017F;ie auf die zuku&#x0364;nftige Zeit &#x017F;ehen<lb/>
&#x201E;&#x017F;ollen, ihre Gu&#x0364;tigkeit auch billig erfodert, daß &#x017F;ie<lb/>
&#x201E;in die vergangene Zeit zuru&#x0364;ck &#x017F;ehen, und den<lb/>
&#x201E;muntern Jugend-Jahren ihrer Kinder etwas zu<lb/>
&#x201E;gute halten, und mit ihrer allzu lebhaften Hoff-<lb/>
&#x201E;nung, der die Ueberlegung noch nicht die gebu&#x0364;h-<lb/>
&#x201E;renden Schrancken ge&#x017F;etzt, und die &#x017F;ich noch nie<lb/>
&#x201E;betrogen ge&#x017F;ehen hat, Geduld haben. Alle Dinge<lb/>
&#x201E;&#x017F;cheinen uns zu Anfang, wenn wir gu&#x0364;ldene Ber-<lb/>
&#x201E;ge erwarten, und voller Hoffnung am Morgen<lb/>
&#x201E;un&#x017F;erer Tage aufgehen, viel anders, als wenn wir<lb/>
&#x201E;uns am Ende nach dem was vergangen i&#x017F;t um-<lb/>
&#x201E;&#x017F;ehen, und, nachdem wir uns in die&#x017F;em Leben<lb/>
&#x201E;genug ermu&#x0364;det haben, uns nach un&#x017F;erm ewigen<lb/>
&#x201E;Vaterlande &#x017F;ehnen. Alsdenn u&#x0364;derlegen wir er&#x017F;t,<lb/>
&#x201E;was fu&#x0364;r Hoffnungen uns fehl ge&#x017F;chlagen &#x017F;ind,<lb/>
&#x201E;was fu&#x0364;r Mu&#x0364;he, was fu&#x0364;r Verdruß, was fu&#x0364;r Ge-<lb/>
&#x201E;fahr wir haben u&#x0364;bernehmen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en: wir machen<lb/>
&#x201E;alsdenn gleich&#x017F;am emen richtigen An&#x017F;chlag von<lb/>
&#x201E;dem wahren Werth des Vergnu&#x0364;gens, das wir in<lb/>
&#x201E;viel geringerem Maaß geno&#x017F;&#x017F;en als gehoffet ha-<lb/>
&#x201E;ben. Blos die Erfahrung kan uns von dem<lb/>
&#x201E;gro&#x017F;&#x017F;en Unter&#x017F;cheid un&#x017F;erer vorher und nachher<lb/>
&#x201E;gemachten Rechnung u&#x0364;berzeugen. Wenn wir<lb/>
&#x201E;nun das, was wir aus Erfahrung gelernt, denen<lb/>
&#x201E;die wir lieben beyzubringen wu&#x0364;n&#x017F;chen, obgleich<lb/>
&#x201E;ihr Leben noch zu kurtz i&#x017F;t, als daß &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t die-<lb/>
&#x201E;&#x017F;e Erfahrung erlanget, und die Bitterkeit des Ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;gnu&#x0364;-</fw></note></p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Meine</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0128] Die Geſchichte diente: allein ſie drang darauf, daß ich ihr den gantzen Brief vorleſen ſollte. * Meine * Die Stelle, auf welche ſich die Fraͤulein Howe bezog lautet alſo: „Erlauden Sie mir, gnaͤdige Frau, Sie zu erin- „nern, daß wenn Perſonen von Jhren Jahren „und von Jhrer Erfahrung andern die Regel ge- „ben wollen, daß ſie auf die zukuͤnftige Zeit ſehen „ſollen, ihre Guͤtigkeit auch billig erfodert, daß ſie „in die vergangene Zeit zuruͤck ſehen, und den „muntern Jugend-Jahren ihrer Kinder etwas zu „gute halten, und mit ihrer allzu lebhaften Hoff- „nung, der die Ueberlegung noch nicht die gebuͤh- „renden Schrancken geſetzt, und die ſich noch nie „betrogen geſehen hat, Geduld haben. Alle Dinge „ſcheinen uns zu Anfang, wenn wir guͤldene Ber- „ge erwarten, und voller Hoffnung am Morgen „unſerer Tage aufgehen, viel anders, als wenn wir „uns am Ende nach dem was vergangen iſt um- „ſehen, und, nachdem wir uns in dieſem Leben „genug ermuͤdet haben, uns nach unſerm ewigen „Vaterlande ſehnen. Alsdenn uͤderlegen wir erſt, „was fuͤr Hoffnungen uns fehl geſchlagen ſind, „was fuͤr Muͤhe, was fuͤr Verdruß, was fuͤr Ge- „fahr wir haben uͤbernehmen muͤſſen: wir machen „alsdenn gleichſam emen richtigen Anſchlag von „dem wahren Werth des Vergnuͤgens, das wir in „viel geringerem Maaß genoſſen als gehoffet ha- „ben. Blos die Erfahrung kan uns von dem „groſſen Unterſcheid unſerer vorher und nachher „gemachten Rechnung uͤberzeugen. Wenn wir „nun das, was wir aus Erfahrung gelernt, denen „die wir lieben beyzubringen wuͤnſchen, obgleich „ihr Leben noch zu kurtz iſt, als daß ſie ſelbſt die- „ſe Erfahrung erlanget, und die Bitterkeit des Ver- „gnuͤ-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/128
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/128>, abgerufen am 20.05.2024.