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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

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Die Geschichte
denn was muß das für ein Mensch seyn, der sein
eigenes Fleisch hasset?

Jch weiß nicht, Fräulein,

Jch weiß nicht, meine Base,

Jch weiß nicht, Clärchen
rieffen sie alle in einem Athem.

Jch sagte: es kan seyn, daß ich nicht weiß,
was er für Ursachen dazu hat; ich verlange sie
auch nicht zu wissen: allein die Welt, die un-
partheyische Welt, spricht übel von ihm. Wenn
sich die Welt in ihrem Urtheil in Absicht auf den
einen übereilt, so kan sie das auch bey dem an-
dern thun. Weiter will ich nicht sagen! Es ist
ein schlechtes Zeichen, wenn man andere herun-
ter setzen muß, um sich einzuschmeicheln.

Das Gesicht des armen Mannes war voller
Verwirrung. Er sahe aus, als wenn er heulen
wollte; das gantze Gesicht war verzogen und ver-
drehet, weder Mund noch Nase war in der Mit-
te. Wäre es mir möglich gewesen, Mitleiden
mit ihm zu haben, so hätte ich es diesesmahl
versuchen wollen.

Einer sahe den andern an, und niemand woll-
te reden. Es kam mir vor, als wenn meine
Base das, was ich gesagt hatte, gern stillschwei-
gend billigen wollte: denn als sie anfing zu spre-
chen, verwieß sie es mir sehr gelinde, daß ich
Herrn Solmesens Brief nicht anhören wollte.
Es schien, daß er selbst nicht mehr Lust hatte,
starck darauf zu dringen, daß ich mich von ihm
möchte belehren lassen. Mein Onckle sagte: es

wäre

Die Geſchichte
denn was muß das fuͤr ein Menſch ſeyn, der ſein
eigenes Fleiſch haſſet?

Jch weiß nicht, Fraͤulein,

Jch weiß nicht, meine Baſe,

Jch weiß nicht, Claͤrchen
rieffen ſie alle in einem Athem.

Jch ſagte: es kan ſeyn, daß ich nicht weiß,
was er fuͤr Urſachen dazu hat; ich verlange ſie
auch nicht zu wiſſen: allein die Welt, die un-
partheyiſche Welt, ſpricht uͤbel von ihm. Wenn
ſich die Welt in ihrem Urtheil in Abſicht auf den
einen uͤbereilt, ſo kan ſie das auch bey dem an-
dern thun. Weiter will ich nicht ſagen! Es iſt
ein ſchlechtes Zeichen, wenn man andere herun-
ter ſetzen muß, um ſich einzuſchmeicheln.

Das Geſicht des armen Mannes war voller
Verwirrung. Er ſahe aus, als wenn er heulen
wollte; das gantze Geſicht war verzogen und ver-
drehet, weder Mund noch Naſe war in der Mit-
te. Waͤre es mir moͤglich geweſen, Mitleiden
mit ihm zu haben, ſo haͤtte ich es dieſesmahl
verſuchen wollen.

Einer ſahe den andern an, und niemand woll-
te reden. Es kam mir vor, als wenn meine
Baſe das, was ich geſagt hatte, gern ſtillſchwei-
gend billigen wollte: denn als ſie anfing zu ſpre-
chen, verwieß ſie es mir ſehr gelinde, daß ich
Herrn Solmeſens Brief nicht anhoͤren wollte.
Es ſchien, daß er ſelbſt nicht mehr Luſt hatte,
ſtarck darauf zu dringen, daß ich mich von ihm
moͤchte belehren laſſen. Mein Onckle ſagte: es

waͤre
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[350/0356] Die Geſchichte denn was muß das fuͤr ein Menſch ſeyn, der ſein eigenes Fleiſch haſſet? Jch weiß nicht, Fraͤulein, Jch weiß nicht, meine Baſe, Jch weiß nicht, Claͤrchen rieffen ſie alle in einem Athem. Jch ſagte: es kan ſeyn, daß ich nicht weiß, was er fuͤr Urſachen dazu hat; ich verlange ſie auch nicht zu wiſſen: allein die Welt, die un- partheyiſche Welt, ſpricht uͤbel von ihm. Wenn ſich die Welt in ihrem Urtheil in Abſicht auf den einen uͤbereilt, ſo kan ſie das auch bey dem an- dern thun. Weiter will ich nicht ſagen! Es iſt ein ſchlechtes Zeichen, wenn man andere herun- ter ſetzen muß, um ſich einzuſchmeicheln. Das Geſicht des armen Mannes war voller Verwirrung. Er ſahe aus, als wenn er heulen wollte; das gantze Geſicht war verzogen und ver- drehet, weder Mund noch Naſe war in der Mit- te. Waͤre es mir moͤglich geweſen, Mitleiden mit ihm zu haben, ſo haͤtte ich es dieſesmahl verſuchen wollen. Einer ſahe den andern an, und niemand woll- te reden. Es kam mir vor, als wenn meine Baſe das, was ich geſagt hatte, gern ſtillſchwei- gend billigen wollte: denn als ſie anfing zu ſpre- chen, verwieß ſie es mir ſehr gelinde, daß ich Herrn Solmeſens Brief nicht anhoͤren wollte. Es ſchien, daß er ſelbſt nicht mehr Luſt hatte, ſtarck darauf zu dringen, daß ich mich von ihm moͤchte belehren laſſen. Mein Onckle ſagte: es waͤre

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/356>, abgerufen am 22.11.2024.