Damit Sie aber doch nicht dencken mögen, daß einiger Grund zu dem Verdacht vorhanden sey, den Sie zwar aus Freundschaft auf mich werfen, der mich aber doch ohne Entschuldigung machen würde: so muß ich mir selbst Recht wie- derfahren lassen, und Jhnen die Erklärung thun, daß, wo ich anders mein eigenes Hertz kenne, keine geheime Neigung darin ist, die ich nicht gern gestehen wollte. Es kommt mir auch das nicht geringe vor, was in der That wichtig ist. Und dennoch entschuldige ich Jhre Frau Mutter, wenn ich auch nichts für sie zu sa- gen hätte, als dieses eintzige, daß ich nicht mit eben dem Recht von ihr Gefälligkeiten erwarten konnte, als von ihrer Tochter. Denn ich darf mich nicht unterstehen, mich gegen die Person auf Freundschaft zu beruffen, der ich Ehrer- bietung schuldig bin, weil sie meiner Freundin Mutter ist. Zu Ehrerbietung aber schickt sich die Vertraulichkeit nicht, die ein wesentliches Stück des geheiligten Bündnisses unserer Her- tzen ist.
Was ich demnach von meiner Anna Howe erwarten konnte, das durffte ich nicht von ihrer Frau Mutter erwarten. Denn würde es nicht wunderlich seyn, wenn man es einer Person von ihren Jahren und Verstande verdencken wollte, daß sie nicht wider ihre eigenen Einsichten han- deln will? und zwar dieses in einer Sache, darüber sie mit einer Familie in Feindschaft ge-
rathen
Die Geſchichte
Damit Sie aber doch nicht dencken moͤgen, daß einiger Grund zu dem Verdacht vorhanden ſey, den Sie zwar aus Freundſchaft auf mich werfen, der mich aber doch ohne Entſchuldigung machen wuͤrde: ſo muß ich mir ſelbſt Recht wie- derfahren laſſen, und Jhnen die Erklaͤrung thun, daß, wo ich anders mein eigenes Hertz kenne, keine geheime Neigung darin iſt, die ich nicht gern geſtehen wollte. Es kommt mir auch das nicht geringe vor, was in der That wichtig iſt. Und dennoch entſchuldige ich Jhre Frau Mutter, wenn ich auch nichts fuͤr ſie zu ſa- gen haͤtte, als dieſes eintzige, daß ich nicht mit eben dem Recht von ihr Gefaͤlligkeiten erwarten konnte, als von ihrer Tochter. Denn ich darf mich nicht unterſtehen, mich gegen die Perſon auf Freundſchaft zu beruffen, der ich Ehrer- bietung ſchuldig bin, weil ſie meiner Freundin Mutter iſt. Zu Ehrerbietung aber ſchickt ſich die Vertraulichkeit nicht, die ein weſentliches Stuͤck des geheiligten Buͤndniſſes unſerer Her- tzen iſt.
Was ich demnach von meiner Anna Howe erwarten konnte, das durffte ich nicht von ihrer Frau Mutter erwarten. Denn wuͤrde es nicht wunderlich ſeyn, wenn man es einer Perſon von ihren Jahren und Verſtande verdencken wollte, daß ſie nicht wider ihre eigenen Einſichten han- deln will? und zwar dieſes in einer Sache, daruͤber ſie mit einer Familie in Feindſchaft ge-
rathen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0490"n="484"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">Die Geſchichte</hi></hi></fw><lb/><p>Damit Sie aber doch nicht dencken moͤgen,<lb/>
daß einiger Grund zu dem Verdacht vorhanden<lb/>ſey, den Sie zwar aus Freundſchaft auf mich<lb/>
werfen, der mich aber doch ohne Entſchuldigung<lb/>
machen wuͤrde: ſo muß ich mir ſelbſt Recht wie-<lb/>
derfahren laſſen, und Jhnen die Erklaͤrung thun,<lb/>
daß, wo ich anders mein eigenes Hertz kenne,<lb/><hirendition="#fr">keine geheime Neigung</hi> darin iſt, <hirendition="#fr">die ich<lb/>
nicht gern geſtehen wollte.</hi> Es kommt mir<lb/>
auch das nicht geringe vor, was in der That<lb/>
wichtig iſt. Und dennoch entſchuldige ich Jhre<lb/>
Frau Mutter, wenn ich auch nichts fuͤr ſie zu ſa-<lb/>
gen haͤtte, als dieſes eintzige, daß ich nicht mit<lb/>
eben dem Recht von ihr Gefaͤlligkeiten erwarten<lb/>
konnte, als von ihrer Tochter. Denn ich darf<lb/>
mich nicht unterſtehen, mich gegen die Perſon<lb/>
auf <hirendition="#fr">Freundſchaft</hi> zu beruffen, der ich <hirendition="#fr">Ehrer-<lb/>
bietung</hi>ſchuldig bin, weil ſie meiner Freundin<lb/>
Mutter iſt. Zu Ehrerbietung aber ſchickt ſich<lb/>
die Vertraulichkeit nicht, die ein weſentliches<lb/>
Stuͤck des geheiligten Buͤndniſſes unſerer Her-<lb/>
tzen iſt.</p><lb/><p>Was ich demnach von meiner <hirendition="#fr">Anna Howe</hi><lb/>
erwarten konnte, das durffte ich nicht von ihrer<lb/>
Frau Mutter erwarten. Denn wuͤrde es nicht<lb/>
wunderlich ſeyn, wenn man es einer Perſon von<lb/>
ihren Jahren und Verſtande verdencken wollte,<lb/>
daß ſie nicht wider ihre eigenen Einſichten han-<lb/>
deln will? und zwar dieſes in einer Sache,<lb/>
daruͤber ſie mit einer Familie in Feindſchaft ge-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">rathen</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[484/0490]
Die Geſchichte
Damit Sie aber doch nicht dencken moͤgen,
daß einiger Grund zu dem Verdacht vorhanden
ſey, den Sie zwar aus Freundſchaft auf mich
werfen, der mich aber doch ohne Entſchuldigung
machen wuͤrde: ſo muß ich mir ſelbſt Recht wie-
derfahren laſſen, und Jhnen die Erklaͤrung thun,
daß, wo ich anders mein eigenes Hertz kenne,
keine geheime Neigung darin iſt, die ich
nicht gern geſtehen wollte. Es kommt mir
auch das nicht geringe vor, was in der That
wichtig iſt. Und dennoch entſchuldige ich Jhre
Frau Mutter, wenn ich auch nichts fuͤr ſie zu ſa-
gen haͤtte, als dieſes eintzige, daß ich nicht mit
eben dem Recht von ihr Gefaͤlligkeiten erwarten
konnte, als von ihrer Tochter. Denn ich darf
mich nicht unterſtehen, mich gegen die Perſon
auf Freundſchaft zu beruffen, der ich Ehrer-
bietung ſchuldig bin, weil ſie meiner Freundin
Mutter iſt. Zu Ehrerbietung aber ſchickt ſich
die Vertraulichkeit nicht, die ein weſentliches
Stuͤck des geheiligten Buͤndniſſes unſerer Her-
tzen iſt.
Was ich demnach von meiner Anna Howe
erwarten konnte, das durffte ich nicht von ihrer
Frau Mutter erwarten. Denn wuͤrde es nicht
wunderlich ſeyn, wenn man es einer Perſon von
ihren Jahren und Verſtande verdencken wollte,
daß ſie nicht wider ihre eigenen Einſichten han-
deln will? und zwar dieſes in einer Sache,
daruͤber ſie mit einer Familie in Feindſchaft ge-
rathen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/490>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.