ner rechtmäßigen Nachkommen auf dein Grab la- den, weil du sie als kränckliche Krüppel zu ihrem Unglück in die Welt gesetzet hast? weil du ihnen ein Leben gegeben hast, das sie nicht ihrem Ver- walter (dessen Bauer du nicht seyn willst) sondern dem Clistir-Sprützer zu dancken haben? Sollen deine Nachkommen, wenn sie anders im Stande sind Kinder zu zeugen, solche Kinder in die Welt bringen, die sich wider von Geschlecht zu Geschlecht den Fluch ihrer Nachkommen dadurch zuziehen, weil jene ihnen ihr Daseyn zu dancken haben?
So gottlos wir in den Augen der vernünftigen Welt sind, so haben wir doch den Theil unserer Seele, der Gewissen heißt, nicht gantz verlohren. Die Religion verdammet uns zwar, allein wir ha- ben uns doch noch nicht unterstanden, eine neue Religion, die unsern Sitten gemäß ist, zu erdencken. Wir verachten die, welche die Religion umstürtzen wollen; und wir wissen zu viel von der Religion, als daß wir sie sollten in Zweifel ziehen können. Wir glauben insgesamt künftige Strafen und Be- lohnungen: und wir hoffen nur, weil wir jung und gesund sind, daß wir noch Zeit genug zu der Busse haben. Das heißt so viel, als: wir wollen unsere Sinnen vergnügen, so lange diese eines Vergnügens fähig sind, und wir wollen uns bessern, wenn wir nicht mehr sündigen können. (Wirf mir nicht vor, daß ich allzu ernsthaft dencke. Du hast auch biswei- len ernsthafte Gedancken, ob sie dich gleich nicht oft überfallen.)
Soll
ner rechtmaͤßigen Nachkommen auf dein Grab la- den, weil du ſie als kraͤnckliche Kruͤppel zu ihrem Ungluͤck in die Welt geſetzet haſt? weil du ihnen ein Leben gegeben haſt, das ſie nicht ihrem Ver- walter (deſſen Bauer du nicht ſeyn willſt) ſondern dem Cliſtir-Spruͤtzer zu dancken haben? Sollen deine Nachkommen, wenn ſie anders im Stande ſind Kinder zu zeugen, ſolche Kinder in die Welt bringen, die ſich wider von Geſchlecht zu Geſchlecht den Fluch ihrer Nachkommen dadurch zuziehen, weil jene ihnen ihr Daſeyn zu dancken haben?
So gottlos wir in den Augen der vernuͤnftigen Welt ſind, ſo haben wir doch den Theil unſerer Seele, der Gewiſſen heißt, nicht gantz verlohren. Die Religion verdammet uns zwar, allein wir ha- ben uns doch noch nicht unterſtanden, eine neue Religion, die unſern Sitten gemaͤß iſt, zu erdencken. Wir verachten die, welche die Religion umſtuͤrtzen wollen; und wir wiſſen zu viel von der Religion, als daß wir ſie ſollten in Zweifel ziehen koͤnnen. Wir glauben insgeſamt kuͤnftige Strafen und Be- lohnungen: und wir hoffen nur, weil wir jung und geſund ſind, daß wir noch Zeit genug zu der Buſſe haben. Das heißt ſo viel, als: wir wollen unſere Sinnen vergnuͤgen, ſo lange dieſe eines Vergnuͤgens faͤhig ſind, und wir wollen uns beſſern, wenn wir nicht mehr ſuͤndigen koͤnnen. (Wirf mir nicht vor, daß ich allzu ernſthaft dencke. Du haſt auch biswei- len ernſthafte Gedancken, ob ſie dich gleich nicht oft uͤberfallen.)
Soll
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ner rechtmaͤßigen Nachkommen auf dein Grab la-
den, weil du ſie als kraͤnckliche Kruͤppel zu ihrem
Ungluͤck in die Welt geſetzet haſt? weil du ihnen
ein Leben gegeben haſt, das ſie nicht ihrem Ver-
walter (deſſen Bauer du nicht ſeyn willſt) ſondern
dem Cliſtir-Spruͤtzer zu dancken haben? Sollen
deine Nachkommen, wenn ſie anders im Stande
ſind Kinder zu zeugen, ſolche Kinder in die Welt
bringen, die ſich wider von Geſchlecht zu Geſchlecht
den Fluch ihrer Nachkommen dadurch zuziehen,
weil jene ihnen ihr Daſeyn zu dancken haben?
So gottlos wir in den Augen der vernuͤnftigen
Welt ſind, ſo haben wir doch den Theil unſerer
Seele, der Gewiſſen heißt, nicht gantz verlohren.
Die Religion verdammet uns zwar, allein wir ha-
ben uns doch noch nicht unterſtanden, eine neue
Religion, die unſern Sitten gemaͤß iſt, zu erdencken.
Wir verachten die, welche die Religion umſtuͤrtzen
wollen; und wir wiſſen zu viel von der Religion,
als daß wir ſie ſollten in Zweifel ziehen koͤnnen.
Wir glauben insgeſamt kuͤnftige Strafen und Be-
lohnungen: und wir hoffen nur, weil wir jung und
geſund ſind, daß wir noch Zeit genug zu der Buſſe
haben. Das heißt ſo viel, als: wir wollen unſere
Sinnen vergnuͤgen, ſo lange dieſe eines Vergnuͤgens
faͤhig ſind, und wir wollen uns beſſern, wenn wir
nicht mehr ſuͤndigen koͤnnen. (Wirf mir nicht vor,
daß ich allzu ernſthaft dencke. Du haſt auch biswei-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/395>, abgerufen am 22.12.2024.
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