Sie verbannet gewisse Gedancken, die mir noch unerträglicher sind. Grausame Gedancken! Sie muß von meiner Tugend, die sie mir aus Höflich- keit zuschreibet, eine sehr geringe Meinung haben, wenn sie glaubt, daß ich nicht durch Gottes Gna- de über Versuchungen von der Art hinweg bin. Jch habe zwar ausser Lovelacen noch keine Manns- Person gesehen, deren Gestalt mir gefallen hätte: allein seine üble Aufführung machte, daß ich selbst die Gleichgültigkeit gegen ihn, deren ich mich rühm- te, vor keine besondere Tugend ansehen konnte. Nun ich ihn aber näher kenne, habe ich weniger Zuneigung zu ihm, als jemahls. Er hat mir war- lich nie weniger gefallen, als jetzund. Wenn ich ihn nicht schon jetzund hasse, so glaube ich doch, es sollte mir leichter werden, ihn zu hassen, als irgend einen Menschen in der Welt, von dem ich jemahls eine mittelmäßig-gute Meinung ge- habt habe. Denn ich habe mich durch ihn in meiner Hoffnung am meisten betrogen gefunden, ob- gleich meine Hoffnung selbst ihm nie so günstig ge- wesen ist, daß ich seine Gesellschaft dem ledigen Stande vorgezogen haben würde, wenn mir freye Wahl gelassen wäre. Wenn noch jetzt eine ewige Lossagung von ihm ein Schritt zu meiner Aussöh- nung seyn kann, und die Meinigen mir dieses zu verstehen geben, so sollen sie sehen, daß ich nicht die Seinige werden will; denn ich bin so hochmüthig daß ich glaube, ich habe eine edlere Seele als er.
Sie werden sagen, ich wüste vor Verdruß nicht was ich schreibe. Da mir meine Base verboten hat
ferner
Sie verbannet gewiſſe Gedancken, die mir noch unertraͤglicher ſind. Grauſame Gedancken! Sie muß von meiner Tugend, die ſie mir aus Hoͤflich- keit zuſchreibet, eine ſehr geringe Meinung haben, wenn ſie glaubt, daß ich nicht durch Gottes Gna- de uͤber Verſuchungen von der Art hinweg bin. Jch habe zwar auſſer Lovelacen noch keine Manns- Perſon geſehen, deren Geſtalt mir gefallen haͤtte: allein ſeine uͤble Auffuͤhrung machte, daß ich ſelbſt die Gleichguͤltigkeit gegen ihn, deren ich mich ruͤhm- te, vor keine beſondere Tugend anſehen konnte. Nun ich ihn aber naͤher kenne, habe ich weniger Zuneigung zu ihm, als jemahls. Er hat mir war- lich nie weniger gefallen, als jetzund. Wenn ich ihn nicht ſchon jetzund haſſe, ſo glaube ich doch, es ſollte mir leichter werden, ihn zu haſſen, als irgend einen Menſchen in der Welt, von dem ich jemahls eine mittelmaͤßig-gute Meinung ge- habt habe. Denn ich habe mich durch ihn in meiner Hoffnung am meiſten betrogen gefunden, ob- gleich meine Hoffnung ſelbſt ihm nie ſo guͤnſtig ge- weſen iſt, daß ich ſeine Geſellſchaft dem ledigen Stande vorgezogen haben wuͤrde, wenn mir freye Wahl gelaſſen waͤre. Wenn noch jetzt eine ewige Loſſagung von ihm ein Schritt zu meiner Ausſoͤh- nung ſeyn kann, und die Meinigen mir dieſes zu verſtehen geben, ſo ſollen ſie ſehen, daß ich nicht die Seinige werden will; denn ich bin ſo hochmuͤthig daß ich glaube, ich habe eine edlere Seele als er.
Sie werden ſagen, ich wuͤſte vor Verdruß nicht was ich ſchreibe. Da mir meine Baſe verboten hat
ferner
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><floatingText><body><pbfacs="#f0409"n="395"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Sie verbannet gewiſſe Gedancken, die mir noch<lb/>
unertraͤglicher ſind. <hirendition="#fr">Grauſame</hi> Gedancken! Sie<lb/>
muß von meiner Tugend, die ſie mir aus Hoͤflich-<lb/>
keit zuſchreibet, eine ſehr geringe Meinung haben,<lb/>
wenn ſie glaubt, daß ich nicht durch Gottes Gna-<lb/>
de uͤber Verſuchungen von der Art hinweg bin.<lb/>
Jch habe zwar auſſer <hirendition="#fr">Lovelacen</hi> noch keine Manns-<lb/>
Perſon geſehen, deren Geſtalt mir gefallen haͤtte:<lb/>
allein ſeine uͤble Auffuͤhrung machte, daß ich ſelbſt<lb/>
die Gleichguͤltigkeit gegen ihn, deren ich mich ruͤhm-<lb/>
te, vor keine beſondere Tugend anſehen konnte.<lb/>
Nun ich ihn aber naͤher kenne, habe ich weniger<lb/>
Zuneigung zu ihm, als jemahls. Er hat mir war-<lb/>
lich nie weniger gefallen, als jetzund. Wenn ich<lb/>
ihn nicht ſchon jetzund haſſe, ſo glaube ich doch,<lb/>
es ſollte mir leichter werden, ihn zu haſſen,<lb/>
als irgend einen Menſchen in der Welt, von dem<lb/>
ich jemahls eine mittelmaͤßig-gute Meinung ge-<lb/>
habt habe. Denn ich habe mich durch ihn in<lb/>
meiner Hoffnung am meiſten betrogen gefunden, ob-<lb/>
gleich meine Hoffnung ſelbſt ihm nie ſo guͤnſtig ge-<lb/>
weſen iſt, daß ich ſeine Geſellſchaft dem ledigen<lb/>
Stande vorgezogen haben wuͤrde, wenn mir freye<lb/>
Wahl gelaſſen waͤre. Wenn noch jetzt eine ewige<lb/>
Loſſagung von ihm ein Schritt zu meiner Ausſoͤh-<lb/>
nung ſeyn kann, und die Meinigen mir dieſes zu<lb/>
verſtehen geben, ſo ſollen ſie ſehen, daß ich nicht<lb/>
die Seinige werden will; denn ich bin ſo hochmuͤthig<lb/>
daß ich glaube, ich habe eine edlere Seele als er.</p><lb/><p>Sie werden ſagen, ich wuͤſte vor Verdruß nicht<lb/>
was ich ſchreibe. Da mir meine Baſe verboten hat<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ferner</fw><lb/></p></body></floatingText></div></div></body></text></TEI>
[395/0409]
Sie verbannet gewiſſe Gedancken, die mir noch
unertraͤglicher ſind. Grauſame Gedancken! Sie
muß von meiner Tugend, die ſie mir aus Hoͤflich-
keit zuſchreibet, eine ſehr geringe Meinung haben,
wenn ſie glaubt, daß ich nicht durch Gottes Gna-
de uͤber Verſuchungen von der Art hinweg bin.
Jch habe zwar auſſer Lovelacen noch keine Manns-
Perſon geſehen, deren Geſtalt mir gefallen haͤtte:
allein ſeine uͤble Auffuͤhrung machte, daß ich ſelbſt
die Gleichguͤltigkeit gegen ihn, deren ich mich ruͤhm-
te, vor keine beſondere Tugend anſehen konnte.
Nun ich ihn aber naͤher kenne, habe ich weniger
Zuneigung zu ihm, als jemahls. Er hat mir war-
lich nie weniger gefallen, als jetzund. Wenn ich
ihn nicht ſchon jetzund haſſe, ſo glaube ich doch,
es ſollte mir leichter werden, ihn zu haſſen,
als irgend einen Menſchen in der Welt, von dem
ich jemahls eine mittelmaͤßig-gute Meinung ge-
habt habe. Denn ich habe mich durch ihn in
meiner Hoffnung am meiſten betrogen gefunden, ob-
gleich meine Hoffnung ſelbſt ihm nie ſo guͤnſtig ge-
weſen iſt, daß ich ſeine Geſellſchaft dem ledigen
Stande vorgezogen haben wuͤrde, wenn mir freye
Wahl gelaſſen waͤre. Wenn noch jetzt eine ewige
Loſſagung von ihm ein Schritt zu meiner Ausſoͤh-
nung ſeyn kann, und die Meinigen mir dieſes zu
verſtehen geben, ſo ſollen ſie ſehen, daß ich nicht
die Seinige werden will; denn ich bin ſo hochmuͤthig
daß ich glaube, ich habe eine edlere Seele als er.
Sie werden ſagen, ich wuͤſte vor Verdruß nicht
was ich ſchreibe. Da mir meine Baſe verboten hat
ferner
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/409>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.