wissend. Es kann weder schreiben noch geschriebe- nes lesen. Weil das Mädchen eine Anverwandte der Frau Sinclair ist, und sie selbst kam, um sie anzubieten; so konnte meine Schöne nicht wohl nein sagen, sonderlich, da es nicht länger dienen soll, als bis Hannichen kommen kann. Wie vie- le Vortheile hat ein dreistes Gemüth, wenn es mit einem gefälligen Gemüthe zu thun hat! - - Jch kann vielleicht durch diese Gelegenheit einige Nach- richt von dem Briefwechsel der Fräulein und dessen Jnhalt bekommen: denn sie braucht nicht im Schreiben so vorsichtig zu seyn, ja sie kann auch Briefe auf dem Tische liegen lassen, weil Dorcas kein geschriebenes lesen kann.
Dorcas ist ein angenehmes und reinliches Mäd- chen, so wohl in Absicht auf die Gestalt als Klei- dung. Jch hoffe, daß sie ihr erlauben wird eine Woche lang bey ihr zu schlaffen, bis sie des Hauses mehr gewohnt wird. Jch merckte zwar, daß sie ihr bey dem ersten Anblick nicht recht gefiel, ob sie gleich meiner Meinung nach sehr demüthig und bescheiden war. Sie ging beynahe zu weit: sie trat zurück, und unterstand sich kaum, die Fräulein anzusehen. Die Lehre, von den Zuneigungen und Abneigungen der Gemüther, ist eine sonderbare Lehre: es steckt noch vieles unerkannt darin. Allein Dorcas soll so gefällig und höflich seyn, als es möglich ist, und ich hoffe, daß sie das Hertz der Fräulein gewinnen wird. Jch weiß gewiß, daß sie sich von der Fräulein nicht gewinnen oder bestechen läßt: das ist ein Glück für mich. Denn wenn Fräulein und Cammer-
Mäd-
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wiſſend. Es kann weder ſchreiben noch geſchriebe- nes leſen. Weil das Maͤdchen eine Anverwandte der Frau Sinclair iſt, und ſie ſelbſt kam, um ſie anzubieten; ſo konnte meine Schoͤne nicht wohl nein ſagen, ſonderlich, da es nicht laͤnger dienen ſoll, als bis Hannichen kommen kann. Wie vie- le Vortheile hat ein dreiſtes Gemuͤth, wenn es mit einem gefaͤlligen Gemuͤthe zu thun hat! ‒ ‒ Jch kann vielleicht durch dieſe Gelegenheit einige Nach- richt von dem Briefwechſel der Fraͤulein und deſſen Jnhalt bekommen: denn ſie braucht nicht im Schreiben ſo vorſichtig zu ſeyn, ja ſie kann auch Briefe auf dem Tiſche liegen laſſen, weil Dorcas kein geſchriebenes leſen kann.
Dorcas iſt ein angenehmes und reinliches Maͤd- chen, ſo wohl in Abſicht auf die Geſtalt als Klei- dung. Jch hoffe, daß ſie ihr erlauben wird eine Woche lang bey ihr zu ſchlaffen, bis ſie des Hauſes mehr gewohnt wird. Jch merckte zwar, daß ſie ihr bey dem erſten Anblick nicht recht gefiel, ob ſie gleich meiner Meinung nach ſehr demuͤthig und beſcheiden war. Sie ging beynahe zu weit: ſie trat zuruͤck, und unterſtand ſich kaum, die Fraͤulein anzuſehen. Die Lehre, von den Zuneigungen und Abneigungen der Gemuͤther, iſt eine ſonderbare Lehre: es ſteckt noch vieles unerkannt darin. Allein Dorcas ſoll ſo gefaͤllig und hoͤflich ſeyn, als es moͤglich iſt, und ich hoffe, daß ſie das Hertz der Fraͤulein gewinnen wird. Jch weiß gewiß, daß ſie ſich von der Fraͤulein nicht gewinnen oder beſtechen laͤßt: das iſt ein Gluͤck fuͤr mich. Denn wenn Fraͤulein und Cammer-
Maͤd-
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[435[439]/0453]
wiſſend. Es kann weder ſchreiben noch geſchriebe-
nes leſen. Weil das Maͤdchen eine Anverwandte
der Frau Sinclair iſt, und ſie ſelbſt kam, um ſie
anzubieten; ſo konnte meine Schoͤne nicht wohl
nein ſagen, ſonderlich, da es nicht laͤnger dienen
ſoll, als bis Hannichen kommen kann. Wie vie-
le Vortheile hat ein dreiſtes Gemuͤth, wenn es mit
einem gefaͤlligen Gemuͤthe zu thun hat! ‒ ‒ Jch
kann vielleicht durch dieſe Gelegenheit einige Nach-
richt von dem Briefwechſel der Fraͤulein und deſſen
Jnhalt bekommen: denn ſie braucht nicht im
Schreiben ſo vorſichtig zu ſeyn, ja ſie kann auch
Briefe auf dem Tiſche liegen laſſen, weil Dorcas
kein geſchriebenes leſen kann.
Dorcas iſt ein angenehmes und reinliches Maͤd-
chen, ſo wohl in Abſicht auf die Geſtalt als Klei-
dung. Jch hoffe, daß ſie ihr erlauben wird eine
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mehr gewohnt wird. Jch merckte zwar, daß ſie ihr
bey dem erſten Anblick nicht recht gefiel, ob ſie gleich
meiner Meinung nach ſehr demuͤthig und beſcheiden
war. Sie ging beynahe zu weit: ſie trat zuruͤck,
und unterſtand ſich kaum, die Fraͤulein anzuſehen.
Die Lehre, von den Zuneigungen und Abneigungen
der Gemuͤther, iſt eine ſonderbare Lehre: es ſteckt
noch vieles unerkannt darin. Allein Dorcas ſoll
ſo gefaͤllig und hoͤflich ſeyn, als es moͤglich iſt, und
ich hoffe, daß ſie das Hertz der Fraͤulein gewinnen
wird. Jch weiß gewiß, daß ſie ſich von der Fraͤulein
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 435[439]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/453>, abgerufen am 22.12.2024.
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