Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite



gebrauchen, die ein Compendium der Weißheit
gantzer Völcker und Jahrhunderte sind, und oft
mehr kluges in sich enthalten, als das eckelhafte Ge-
schwätz unserer meisten Prediger und Sitten-Lehrer.
Er mag lachen, wenn er will: Sie und ich, wir
wissen es besser, denn, ob Sie gleich unter den
Wölfen gewesen sind, so haben Sie doch
nicht von den Wölfen heulen lernen.

Er muß ja nicht wissen, daß ich von dieser Sa-
che an Sie geschrieben habe. Jch schäme mich fast
es zu sagen: allein er ist immer mit mir umgegan-
gen, als wenn ich ein Mann von sehr mittelmäßigem
Verstande wäre, und er wird den besten Rath ver-
achten, wenn er weiß, daß er von mir kommt. Er
hat gewiß keine Ursache mich so zu verachten. Er
wird keinen Schaden von mir haben, wenn er
mich überlebet: ob er mir gleich einmahl in das Ge-
sicht gesagt hat, ich möchte mit meinem Gute an-
fangen, was ich wollte, die Freyheit wäre ihm lie-
ber als das Geld. Jch glaube, er denckt: ich
könnte ihn nicht mit meinen Flügeln wärmen
ohne ihn mit meinem Schnabel zu hacken:

und ich habe ihn doch niemals ohne Noth gehacket.
GOtt weiß, er könnte mein Hertz haben, wenn er
nur darin gefällig gegen mich wäre, daß er auf sein
eigenes Bestes dächte; denn weiter verlange ich nichts
von ihm. Seine arme Mutter hat ihn zuerst ver-
dorben, und nachher bin ich ihm zu gelinde gewesen.
Sie werden dencken: das muß ein artiges danckba-
res Gemüthe seyn, das Böses für Gutes vergilt!
Allein so ist er immer gewesen.

Diese
H 2



gebrauchen, die ein Compendium der Weißheit
gantzer Voͤlcker und Jahrhunderte ſind, und oft
mehr kluges in ſich enthalten, als das eckelhafte Ge-
ſchwaͤtz unſerer meiſten Prediger und Sitten-Lehrer.
Er mag lachen, wenn er will: Sie und ich, wir
wiſſen es beſſer, denn, ob Sie gleich unter den
Woͤlfen geweſen ſind, ſo haben Sie doch
nicht von den Woͤlfen heulen lernen.

Er muß ja nicht wiſſen, daß ich von dieſer Sa-
che an Sie geſchrieben habe. Jch ſchaͤme mich faſt
es zu ſagen: allein er iſt immer mit mir umgegan-
gen, als wenn ich ein Mann von ſehr mittelmaͤßigem
Verſtande waͤre, und er wird den beſten Rath ver-
achten, wenn er weiß, daß er von mir kommt. Er
hat gewiß keine Urſache mich ſo zu verachten. Er
wird keinen Schaden von mir haben, wenn er
mich uͤberlebet: ob er mir gleich einmahl in das Ge-
ſicht geſagt hat, ich moͤchte mit meinem Gute an-
fangen, was ich wollte, die Freyheit waͤre ihm lie-
ber als das Geld. Jch glaube, er denckt: ich
koͤnnte ihn nicht mit meinen Fluͤgeln waͤrmen
ohne ihn mit meinem Schnabel zu hacken:

und ich habe ihn doch niemals ohne Noth gehacket.
GOtt weiß, er koͤnnte mein Hertz haben, wenn er
nur darin gefaͤllig gegen mich waͤre, daß er auf ſein
eigenes Beſtes daͤchte; denn weiter verlange ich nichts
von ihm. Seine arme Mutter hat ihn zuerſt ver-
dorben, und nachher bin ich ihm zu gelinde geweſen.
Sie werden dencken: das muß ein artiges danckba-
res Gemuͤthe ſeyn, das Boͤſes fuͤr Gutes vergilt!
Allein ſo iſt er immer geweſen.

Dieſe
H 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <floatingText>
            <body>
              <p><pb facs="#f0121" n="115"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
gebrauchen, die ein <hi rendition="#aq">Compendium</hi> der Weißheit<lb/>
gantzer Vo&#x0364;lcker und Jahrhunderte &#x017F;ind, und oft<lb/>
mehr kluges in &#x017F;ich enthalten, als das eckelhafte Ge-<lb/>
&#x017F;chwa&#x0364;tz un&#x017F;erer mei&#x017F;ten Prediger und Sitten-Lehrer.<lb/>
Er mag lachen, wenn er will: Sie und ich, wir<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en es be&#x017F;&#x017F;er, denn, <hi rendition="#fr">ob Sie gleich unter den<lb/>
Wo&#x0364;lfen gewe&#x017F;en &#x017F;ind, &#x017F;o haben Sie doch<lb/>
nicht von den Wo&#x0364;lfen heulen lernen.</hi></p><lb/>
              <p>Er muß ja nicht wi&#x017F;&#x017F;en, daß ich von die&#x017F;er Sa-<lb/>
che an Sie ge&#x017F;chrieben habe. Jch &#x017F;cha&#x0364;me mich fa&#x017F;t<lb/>
es zu &#x017F;agen: allein er i&#x017F;t immer mit mir umgegan-<lb/>
gen, als wenn ich ein Mann von &#x017F;ehr mittelma&#x0364;ßigem<lb/>
Ver&#x017F;tande wa&#x0364;re, und er wird den be&#x017F;ten Rath ver-<lb/>
achten, wenn er weiß, daß er von mir kommt. Er<lb/>
hat gewiß keine Ur&#x017F;ache mich &#x017F;o zu verachten. Er<lb/>
wird keinen Schaden von mir haben, wenn er<lb/>
mich u&#x0364;berlebet: ob er mir gleich einmahl in das Ge-<lb/>
&#x017F;icht ge&#x017F;agt hat, ich mo&#x0364;chte mit meinem Gute an-<lb/>
fangen, was ich wollte, die Freyheit wa&#x0364;re ihm lie-<lb/>
ber als das Geld. Jch glaube, er denckt: <hi rendition="#fr">ich<lb/>
ko&#x0364;nnte ihn nicht mit meinen Flu&#x0364;geln wa&#x0364;rmen<lb/>
ohne ihn mit meinem Schnabel zu hacken:</hi><lb/>
und ich habe ihn doch niemals ohne Noth gehacket.<lb/>
GOtt weiß, er ko&#x0364;nnte mein Hertz haben, wenn er<lb/>
nur darin gefa&#x0364;llig gegen mich wa&#x0364;re, daß er auf &#x017F;ein<lb/>
eigenes Be&#x017F;tes da&#x0364;chte; denn weiter verlange ich nichts<lb/>
von ihm. Seine arme Mutter hat ihn zuer&#x017F;t ver-<lb/>
dorben, und nachher bin ich ihm zu gelinde gewe&#x017F;en.<lb/>
Sie werden dencken: das muß ein artiges danckba-<lb/>
res Gemu&#x0364;the &#x017F;eyn, <hi rendition="#fr">das Bo&#x0364;&#x017F;es fu&#x0364;r Gutes vergilt!</hi><lb/>
Allein &#x017F;o i&#x017F;t er immer gewe&#x017F;en.</p><lb/>
              <fw place="bottom" type="sig">H 2</fw>
              <fw place="bottom" type="catch">Die&#x017F;e</fw><lb/>
            </body>
          </floatingText>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[115/0121] gebrauchen, die ein Compendium der Weißheit gantzer Voͤlcker und Jahrhunderte ſind, und oft mehr kluges in ſich enthalten, als das eckelhafte Ge- ſchwaͤtz unſerer meiſten Prediger und Sitten-Lehrer. Er mag lachen, wenn er will: Sie und ich, wir wiſſen es beſſer, denn, ob Sie gleich unter den Woͤlfen geweſen ſind, ſo haben Sie doch nicht von den Woͤlfen heulen lernen. Er muß ja nicht wiſſen, daß ich von dieſer Sa- che an Sie geſchrieben habe. Jch ſchaͤme mich faſt es zu ſagen: allein er iſt immer mit mir umgegan- gen, als wenn ich ein Mann von ſehr mittelmaͤßigem Verſtande waͤre, und er wird den beſten Rath ver- achten, wenn er weiß, daß er von mir kommt. Er hat gewiß keine Urſache mich ſo zu verachten. Er wird keinen Schaden von mir haben, wenn er mich uͤberlebet: ob er mir gleich einmahl in das Ge- ſicht geſagt hat, ich moͤchte mit meinem Gute an- fangen, was ich wollte, die Freyheit waͤre ihm lie- ber als das Geld. Jch glaube, er denckt: ich koͤnnte ihn nicht mit meinen Fluͤgeln waͤrmen ohne ihn mit meinem Schnabel zu hacken: und ich habe ihn doch niemals ohne Noth gehacket. GOtt weiß, er koͤnnte mein Hertz haben, wenn er nur darin gefaͤllig gegen mich waͤre, daß er auf ſein eigenes Beſtes daͤchte; denn weiter verlange ich nichts von ihm. Seine arme Mutter hat ihn zuerſt ver- dorben, und nachher bin ich ihm zu gelinde geweſen. Sie werden dencken: das muß ein artiges danckba- res Gemuͤthe ſeyn, das Boͤſes fuͤr Gutes vergilt! Allein ſo iſt er immer geweſen. Dieſe H 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/121
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/121>, abgerufen am 24.11.2024.