sie können also hineingehen und die Stube an- sehen.
O! wie fing hierauf mein Herz wieder an, seine Affenstreiche zu spielen.
Jch hinkte hinein und stolperte herum. Das Zimmer gefiel mir wohl, und ich war versichert, es würde auch meiner Frauen gefallen. Jch bat um Entschuldigung, daß ich mich niedersetzen müßte, und frug, wer der Geistliche an dem Or- te wäre? Ob er gut predigte? Wer in der Ca- pelle predigte? Ob er nicht nur gute Predigten hielte, sondern auch zugleich einen guten Wan- del führte. Jch muß hiernach fragen, Mada- me, setzte ich hinzu: denn ich kann es nicht ber- gen, ich sehe gern, daß die Geistlichen das auch selbst thun, was sie predigen.
Gar recht, mein Herr: allein es geschieht nicht so oft, als zu wünschen wäre.
Desto mehr ist es zu bedauren, Madame. Aber ich habe eine große Hochachtung gegen die Geistlichkeit überhaupt. Es ist vielmehr ein bei- ßender Vorwurf gegen die menschliche Natur, als gegen den Stand: wenn wir annehmen, daß diejenigen, welche die beste Gelegenheit haben, gut zu seyn, weniger vollkommen sind, als andere Leute. Jch für mein Theil halte eben so wenig von den Urtheilen über ganze Stände als über ganze Völker - - Jedoch ich halte die Jung- fer in ihrem Closet auf. Mein Podagra macht mich unhöflich.
Hiemit
Fünfter Theil. P
ſie koͤnnen alſo hineingehen und die Stube an- ſehen.
O! wie fing hierauf mein Herz wieder an, ſeine Affenſtreiche zu ſpielen.
Jch hinkte hinein und ſtolperte herum. Das Zimmer gefiel mir wohl, und ich war verſichert, es wuͤrde auch meiner Frauen gefallen. Jch bat um Entſchuldigung, daß ich mich niederſetzen muͤßte, und frug, wer der Geiſtliche an dem Or- te waͤre? Ob er gut predigte? Wer in der Ca- pelle predigte? Ob er nicht nur gute Predigten hielte, ſondern auch zugleich einen guten Wan- del fuͤhrte. Jch muß hiernach fragen, Mada- me, ſetzte ich hinzu: denn ich kann es nicht ber- gen, ich ſehe gern, daß die Geiſtlichen das auch ſelbſt thun, was ſie predigen.
Gar recht, mein Herr: allein es geſchieht nicht ſo oft, als zu wuͤnſchen waͤre.
Deſto mehr iſt es zu bedauren, Madame. Aber ich habe eine große Hochachtung gegen die Geiſtlichkeit uͤberhaupt. Es iſt vielmehr ein bei- ßender Vorwurf gegen die menſchliche Natur, als gegen den Stand: wenn wir annehmen, daß diejenigen, welche die beſte Gelegenheit haben, gut zu ſeyn, weniger vollkommen ſind, als andere Leute. Jch fuͤr mein Theil halte eben ſo wenig von den Urtheilen uͤber ganze Staͤnde als uͤber ganze Voͤlker ‒ ‒ Jedoch ich halte die Jung- fer in ihrem Cloſet auf. Mein Podagra macht mich unhoͤflich.
Hiemit
Fuͤnfter Theil. P
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ſie koͤnnen alſo hineingehen und die Stube an-
ſehen.
O! wie fing hierauf mein Herz wieder an,
ſeine Affenſtreiche zu ſpielen.
Jch hinkte hinein und ſtolperte herum. Das
Zimmer gefiel mir wohl, und ich war verſichert,
es wuͤrde auch meiner Frauen gefallen. Jch
bat um Entſchuldigung, daß ich mich niederſetzen
muͤßte, und frug, wer der Geiſtliche an dem Or-
te waͤre? Ob er gut predigte? Wer in der Ca-
pelle predigte? Ob er nicht nur gute Predigten
hielte, ſondern auch zugleich einen guten Wan-
del fuͤhrte. Jch muß hiernach fragen, Mada-
me, ſetzte ich hinzu: denn ich kann es nicht ber-
gen, ich ſehe gern, daß die Geiſtlichen das auch
ſelbſt thun, was ſie predigen.
Gar recht, mein Herr: allein es geſchieht
nicht ſo oft, als zu wuͤnſchen waͤre.
Deſto mehr iſt es zu bedauren, Madame.
Aber ich habe eine große Hochachtung gegen die
Geiſtlichkeit uͤberhaupt. Es iſt vielmehr ein bei-
ßender Vorwurf gegen die menſchliche Natur,
als gegen den Stand: wenn wir annehmen, daß
diejenigen, welche die beſte Gelegenheit haben,
gut zu ſeyn, weniger vollkommen ſind, als andere
Leute. Jch fuͤr mein Theil halte eben ſo wenig
von den Urtheilen uͤber ganze Staͤnde als uͤber
ganze Voͤlker ‒ ‒ Jedoch ich halte die Jung-
fer in ihrem Cloſet auf. Mein Podagra macht
mich unhoͤflich.
Hiemit
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/231>, abgerufen am 26.11.2024.
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