Misverständniß als eine Kleinigkeit bey ihr hin- gehen zu lassen - - als ein Misverständniß, das schon gehoben ist. Wenn man sich auf jeman- des Entscheidung berufet: so giebt das der Per- son, auf die man sich beruft, einen Stolz und Vorzug, und kann den, der sich ihrem Ausspruche überlässet, nicht allein in ihren, sondern auch in seinen eignen Augen, verächtlich machen. Er- heben sie diejenigen nicht zu Richtern, die zum voraus sich von ihnen lehren und unterweisen zu lassen bereit sind. Ein jeder von meiner Fami- lie ist eben so stolz, als ich seyn soll. Aber alle werden ihnen willig den Vorzug einräumen. Sie werden in aller Augen das angesehnste Frau- enzimmer von der Familie seyn.
Dieß hätte bey allen andern Weibspersonen in der Welt die erwünschte Wirkung haben mö- gen: nur nicht bey dieser Fräulein. Und doch ist sie das einzige Frauenzimmer in der Welt, von dem es sich mit Wahrheit sagen lässet. Aber höre nur, wie zornig sie diese Höflichkeit von sich ablehnte.
Ja, in Wahrheit! - - Bey denen Worten hielte sie einen Augenblick inne und ihre anmuth- reiche Brust hob sich von einer edlen Verachtung - - Jch, die ich von Anfange durch List und Rän- ke mir selbst geraubet bin - - Ein Flüchtling von meiner Familie! von meinen Verwandten gänzlich aufgegeben! von ihren schimpflich belei- diget! eine Person, die bey ihren Angehörigen demüthig Schutz suchen muß! - - Jst das nicht
die
Misverſtaͤndniß als eine Kleinigkeit bey ihr hin- gehen zu laſſen ‒ ‒ als ein Misverſtaͤndniß, das ſchon gehoben iſt. Wenn man ſich auf jeman- des Entſcheidung berufet: ſo giebt das der Per- ſon, auf die man ſich beruft, einen Stolz und Vorzug, und kann den, der ſich ihrem Ausſpruche uͤberlaͤſſet, nicht allein in ihren, ſondern auch in ſeinen eignen Augen, veraͤchtlich machen. Er- heben ſie diejenigen nicht zu Richtern, die zum voraus ſich von ihnen lehren und unterweiſen zu laſſen bereit ſind. Ein jeder von meiner Fami- lie iſt eben ſo ſtolz, als ich ſeyn ſoll. Aber alle werden ihnen willig den Vorzug einraͤumen. Sie werden in aller Augen das angeſehnſte Frau- enzimmer von der Familie ſeyn.
Dieß haͤtte bey allen andern Weibsperſonen in der Welt die erwuͤnſchte Wirkung haben moͤ- gen: nur nicht bey dieſer Fraͤulein. Und doch iſt ſie das einzige Frauenzimmer in der Welt, von dem es ſich mit Wahrheit ſagen laͤſſet. Aber hoͤre nur, wie zornig ſie dieſe Hoͤflichkeit von ſich ablehnte.
Ja, in Wahrheit! ‒ ‒ Bey denen Worten hielte ſie einen Augenblick inne und ihre anmuth- reiche Bruſt hob ſich von einer edlen Verachtung ‒ ‒ Jch, die ich von Anfange durch Liſt und Raͤn- ke mir ſelbſt geraubet bin ‒ ‒ Ein Fluͤchtling von meiner Familie! von meinen Verwandten gaͤnzlich aufgegeben! von ihren ſchimpflich belei- diget! eine Perſon, die bey ihren Angehoͤrigen demuͤthig Schutz ſuchen muß! ‒ ‒ Jſt das nicht
die
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Misverſtaͤndniß als eine Kleinigkeit bey ihr hin-
gehen zu laſſen ‒ ‒ als ein Misverſtaͤndniß, das
ſchon gehoben iſt. Wenn man ſich auf jeman-
des Entſcheidung berufet: ſo giebt das der Per-
ſon, auf die man ſich beruft, einen Stolz und
Vorzug, und kann den, der ſich ihrem Ausſpruche
uͤberlaͤſſet, nicht allein in ihren, ſondern auch in
ſeinen eignen Augen, veraͤchtlich machen. Er-
heben ſie diejenigen nicht zu Richtern, die zum
voraus ſich von ihnen lehren und unterweiſen zu
laſſen bereit ſind. Ein jeder von meiner Fami-
lie iſt eben ſo ſtolz, als ich ſeyn ſoll. Aber alle
werden ihnen willig den Vorzug einraͤumen.
Sie werden in aller Augen das angeſehnſte Frau-
enzimmer von der Familie ſeyn.
Dieß haͤtte bey allen andern Weibsperſonen
in der Welt die erwuͤnſchte Wirkung haben moͤ-
gen: nur nicht bey dieſer Fraͤulein. Und doch
iſt ſie das einzige Frauenzimmer in der Welt,
von dem es ſich mit Wahrheit ſagen laͤſſet. Aber
hoͤre nur, wie zornig ſie dieſe Hoͤflichkeit von ſich
ablehnte.
Ja, in Wahrheit! ‒ ‒ Bey denen Worten
hielte ſie einen Augenblick inne und ihre anmuth-
reiche Bruſt hob ſich von einer edlen Verachtung
‒ ‒ Jch, die ich von Anfange durch Liſt und Raͤn-
ke mir ſelbſt geraubet bin ‒ ‒ Ein Fluͤchtling
von meiner Familie! von meinen Verwandten
gaͤnzlich aufgegeben! von ihren ſchimpflich belei-
diget! eine Perſon, die bey ihren Angehoͤrigen
demuͤthig Schutz ſuchen muß! ‒ ‒ Jſt das nicht
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/462>, abgerufen am 24.11.2024.
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