Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



wie mir Simon erzählet, in der schrecklichsten
Todesangst lieget und winselt? - - Wie viel
muß er leiden! - - Der Himmel erleichtere es
ihm! - - Jch habe ein allzu mitleidiges Herz.
Das würde auch die liebe Schöne befunden ha-
ben, wenn ich nur das ärgste von ihrem Leiden
dem geringsten von seinem hätte gleich achten
können. Jch verstehe es von der Sache selbst,
die geschehen ist: denn von dem Theile ihres Lei-
dens, das von einer äußerstzarten Empfindlich-
keit herrühret, weiß ich nichts; und kann also
auch dafür nicht Rechenschaft geben.



Der ein und sechzigste Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.

Diesen Augenblick komme ich von meiner be-
zaubernden Schönen. Sie will mir nicht
zulassen, nur einmal die Hälfte von den angeneh-
men, den zärtlichen Dingen, zu sagen, wovon
mein ehrliches Herz überzufließen bereit ist. Ein
verzweifelter Zustand, daß, wenn eine Mannsper-
son sich aufgelegt befindet, beredt und zugleich
rührend zu seyn, er doch die Beherrscherinn sei-
nes Schicksals nicht bewegen kann, seinem feinen
Gespräche ein Ohr zu leihen.

Jch kann itzo vollkommen begreifen, woher
es kommt, daß Verliebte, wenn ihre Schönen

grau-



wie mir Simon erzaͤhlet, in der ſchrecklichſten
Todesangſt lieget und winſelt? ‒ ‒ Wie viel
muß er leiden! ‒ ‒ Der Himmel erleichtere es
ihm! ‒ ‒ Jch habe ein allzu mitleidiges Herz.
Das wuͤrde auch die liebe Schoͤne befunden ha-
ben, wenn ich nur das aͤrgſte von ihrem Leiden
dem geringſten von ſeinem haͤtte gleich achten
koͤnnen. Jch verſtehe es von der Sache ſelbſt,
die geſchehen iſt: denn von dem Theile ihres Lei-
dens, das von einer aͤußerſtzarten Empfindlich-
keit herruͤhret, weiß ich nichts; und kann alſo
auch dafuͤr nicht Rechenſchaft geben.



Der ein und ſechzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.

Dieſen Augenblick komme ich von meiner be-
zaubernden Schoͤnen. Sie will mir nicht
zulaſſen, nur einmal die Haͤlfte von den angeneh-
men, den zaͤrtlichen Dingen, zu ſagen, wovon
mein ehrliches Herz uͤberzufließen bereit iſt. Ein
verzweifelter Zuſtand, daß, wenn eine Mannsper-
ſon ſich aufgelegt befindet, beredt und zugleich
ruͤhrend zu ſeyn, er doch die Beherrſcherinn ſei-
nes Schickſals nicht bewegen kann, ſeinem feinen
Geſpraͤche ein Ohr zu leihen.

Jch kann itzo vollkommen begreifen, woher
es kommt, daß Verliebte, wenn ihre Schoͤnen

grau-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0800" n="794"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
wie mir Simon erza&#x0364;hlet, in der &#x017F;chrecklich&#x017F;ten<lb/>
Todesang&#x017F;t lieget und win&#x017F;elt? &#x2012; &#x2012; Wie viel<lb/>
muß er leiden! &#x2012; &#x2012; Der Himmel erleichtere es<lb/>
ihm! &#x2012; &#x2012; Jch habe ein allzu mitleidiges Herz.<lb/>
Das wu&#x0364;rde auch die liebe Scho&#x0364;ne befunden ha-<lb/>
ben, wenn ich nur das a&#x0364;rg&#x017F;te von <hi rendition="#fr">ihrem</hi> Leiden<lb/>
dem gering&#x017F;ten von <hi rendition="#fr">&#x017F;einem</hi> ha&#x0364;tte gleich achten<lb/>
ko&#x0364;nnen. Jch ver&#x017F;tehe es von der Sache &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
die ge&#x017F;chehen i&#x017F;t: denn von dem Theile ihres Lei-<lb/>
dens, das von einer a&#x0364;ußer&#x017F;tzarten Empfindlich-<lb/>
keit herru&#x0364;hret, weiß ich nichts; und kann al&#x017F;o<lb/>
auch dafu&#x0364;r nicht Rechen&#x017F;chaft geben.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#fr">Der ein und &#x017F;echzig&#x017F;te Brief</hi><lb/>
von<lb/><hi rendition="#fr">Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.</hi></head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>ie&#x017F;en Augenblick komme ich von meiner be-<lb/>
zaubernden Scho&#x0364;nen. Sie will mir nicht<lb/>
zula&#x017F;&#x017F;en, nur einmal die Ha&#x0364;lfte von den angeneh-<lb/>
men, den za&#x0364;rtlichen Dingen, zu &#x017F;agen, wovon<lb/>
mein ehrliches Herz u&#x0364;berzufließen bereit i&#x017F;t. Ein<lb/>
verzweifelter Zu&#x017F;tand, daß, wenn eine Mannsper-<lb/>
&#x017F;on &#x017F;ich aufgelegt befindet, beredt und zugleich<lb/>
ru&#x0364;hrend zu &#x017F;eyn, er doch die Beherr&#x017F;cherinn &#x017F;ei-<lb/>
nes Schick&#x017F;als nicht bewegen kann, &#x017F;einem feinen<lb/>
Ge&#x017F;pra&#x0364;che ein Ohr zu leihen.</p><lb/>
          <p>Jch kann itzo vollkommen begreifen, woher<lb/>
es kommt, daß Verliebte, wenn ihre Scho&#x0364;nen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">grau-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[794/0800] wie mir Simon erzaͤhlet, in der ſchrecklichſten Todesangſt lieget und winſelt? ‒ ‒ Wie viel muß er leiden! ‒ ‒ Der Himmel erleichtere es ihm! ‒ ‒ Jch habe ein allzu mitleidiges Herz. Das wuͤrde auch die liebe Schoͤne befunden ha- ben, wenn ich nur das aͤrgſte von ihrem Leiden dem geringſten von ſeinem haͤtte gleich achten koͤnnen. Jch verſtehe es von der Sache ſelbſt, die geſchehen iſt: denn von dem Theile ihres Lei- dens, das von einer aͤußerſtzarten Empfindlich- keit herruͤhret, weiß ich nichts; und kann alſo auch dafuͤr nicht Rechenſchaft geben. Der ein und ſechzigſte Brief von Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford. Dieſen Augenblick komme ich von meiner be- zaubernden Schoͤnen. Sie will mir nicht zulaſſen, nur einmal die Haͤlfte von den angeneh- men, den zaͤrtlichen Dingen, zu ſagen, wovon mein ehrliches Herz uͤberzufließen bereit iſt. Ein verzweifelter Zuſtand, daß, wenn eine Mannsper- ſon ſich aufgelegt befindet, beredt und zugleich ruͤhrend zu ſeyn, er doch die Beherrſcherinn ſei- nes Schickſals nicht bewegen kann, ſeinem feinen Geſpraͤche ein Ohr zu leihen. Jch kann itzo vollkommen begreifen, woher es kommt, daß Verliebte, wenn ihre Schoͤnen grau-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/800
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 794. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/800>, abgerufen am 24.11.2024.