Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



wesen, daß ich mir vornahm, mich so gut, als
ich könnte, zu beruhigen, und zu warten, bis
Sie es für dienlich finden würden, an mich zu
schreiben. Allein ich konnte meine Ungedult nur
auf wenige Tage im Zaum halten: und den 20ten
Jun. schrieb ich einen harten Brief an Sie; den
Sie, wie ich finde, nicht bekommen haben.

Was für ein unglückliches Schicksal, liebste
Freundinn, hat sich, von dem ersten Anfange an
bis auf diese Stunde, in Jhrer Begebenheit ge-
zeiget! Hätte meine Mutter erlaubet - -

Jedoch kann ich diese tadeln: da Jhr Va-
ter
und Jhre Mutter am Leben sind, die so viel
zu verantworten haben? - - So viel! - - als
kein Vater und keine Mutter, in Betrachtung
des Kindes, das sie getrieben, verfolget, bloßge-
stellet, aufgegeben haben - - jemals zu verant-
worten gehabt!

Noch einmal muß ich den verruchten Böse-
wicht verfluchen - - Wiewohl, ich habe es schon
vorher gesagt, alle Worte sind zu wenig und rei-
chen nicht so weit, als es nöthig wäre!

Sehen wir aber nicht an den erschrecklichen
Meineiden und Betrügereyen dieses Menschen,
was liederliche Leute und Liebhaber der so genann-
ten freyen Lebensart zu thun geneigt sind, wenn
sie ein junges Frauenzimmer in ihre Gewalt be-
kommen? Es ist wahrscheinlich, daß er die un-
leidliche Vermessenheit haben mochte, einen leich-
tern Sieg zu hoffen. Allein da Jhre Wach-
samkeit und erhabne Tugend, die ihres gleichen

nicht
K 5



weſen, daß ich mir vornahm, mich ſo gut, als
ich koͤnnte, zu beruhigen, und zu warten, bis
Sie es fuͤr dienlich finden wuͤrden, an mich zu
ſchreiben. Allein ich konnte meine Ungedult nur
auf wenige Tage im Zaum halten: und den 20ten
Jun. ſchrieb ich einen harten Brief an Sie; den
Sie, wie ich finde, nicht bekommen haben.

Was fuͤr ein ungluͤckliches Schickſal, liebſte
Freundinn, hat ſich, von dem erſten Anfange an
bis auf dieſe Stunde, in Jhrer Begebenheit ge-
zeiget! Haͤtte meine Mutter erlaubet ‒ ‒

Jedoch kann ich dieſe tadeln: da Jhr Va-
ter
und Jhre Mutter am Leben ſind, die ſo viel
zu verantworten haben? ‒ ‒ So viel! ‒ ‒ als
kein Vater und keine Mutter, in Betrachtung
des Kindes, das ſie getrieben, verfolget, bloßge-
ſtellet, aufgegeben haben ‒ ‒ jemals zu verant-
worten gehabt!

Noch einmal muß ich den verruchten Boͤſe-
wicht verfluchen ‒ ‒ Wiewohl, ich habe es ſchon
vorher geſagt, alle Worte ſind zu wenig und rei-
chen nicht ſo weit, als es noͤthig waͤre!

Sehen wir aber nicht an den erſchrecklichen
Meineiden und Betruͤgereyen dieſes Menſchen,
was liederliche Leute und Liebhaber der ſo genann-
ten freyen Lebensart zu thun geneigt ſind, wenn
ſie ein junges Frauenzimmer in ihre Gewalt be-
kommen? Es iſt wahrſcheinlich, daß er die un-
leidliche Vermeſſenheit haben mochte, einen leich-
tern Sieg zu hoffen. Allein da Jhre Wach-
ſamkeit und erhabne Tugend, die ihres gleichen

nicht
K 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0159" n="153"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
we&#x017F;en, daß ich mir vornahm, mich &#x017F;o gut, als<lb/>
ich ko&#x0364;nnte, zu beruhigen, und zu warten, bis<lb/>
Sie es fu&#x0364;r dienlich finden wu&#x0364;rden, an mich zu<lb/>
&#x017F;chreiben. Allein ich konnte meine Ungedult nur<lb/>
auf wenige Tage im Zaum halten: und den 20ten<lb/>
Jun. &#x017F;chrieb ich einen harten Brief an Sie; den<lb/>
Sie, wie ich finde, nicht bekommen haben.</p><lb/>
          <p>Was fu&#x0364;r ein unglu&#x0364;ckliches Schick&#x017F;al, lieb&#x017F;te<lb/>
Freundinn, hat &#x017F;ich, von dem er&#x017F;ten Anfange an<lb/>
bis auf die&#x017F;e Stunde, in Jhrer Begebenheit ge-<lb/>
zeiget! Ha&#x0364;tte meine Mutter erlaubet &#x2012; &#x2012;</p><lb/>
          <p>Jedoch kann ich <hi rendition="#fr">die&#x017F;e</hi> tadeln: da Jhr <hi rendition="#fr">Va-<lb/>
ter</hi> und Jhre <hi rendition="#fr">Mutter</hi> am Leben &#x017F;ind, die &#x017F;o viel<lb/>
zu verantworten haben? &#x2012; &#x2012; So viel! &#x2012; &#x2012; als<lb/>
kein Vater und keine Mutter, in Betrachtung<lb/>
des Kindes, das &#x017F;ie getrieben, verfolget, bloßge-<lb/>
&#x017F;tellet, aufgegeben haben &#x2012; &#x2012; jemals zu verant-<lb/>
worten gehabt!</p><lb/>
          <p>Noch einmal muß ich den verruchten Bo&#x0364;&#x017F;e-<lb/>
wicht verfluchen &#x2012; &#x2012; Wiewohl, ich habe es &#x017F;chon<lb/>
vorher ge&#x017F;agt, <hi rendition="#fr">alle</hi> Worte &#x017F;ind zu wenig und rei-<lb/>
chen nicht &#x017F;o weit, als es no&#x0364;thig wa&#x0364;re!</p><lb/>
          <p>Sehen wir aber nicht an den er&#x017F;chrecklichen<lb/>
Meineiden und Betru&#x0364;gereyen die&#x017F;es Men&#x017F;chen,<lb/>
was liederliche Leute und Liebhaber der &#x017F;o genann-<lb/>
ten freyen Lebensart zu thun geneigt &#x017F;ind, wenn<lb/>
&#x017F;ie ein junges Frauenzimmer in ihre Gewalt be-<lb/>
kommen? Es i&#x017F;t wahr&#x017F;cheinlich, daß er die un-<lb/>
leidliche Verme&#x017F;&#x017F;enheit haben mochte, einen leich-<lb/>
tern Sieg zu hoffen. Allein da Jhre Wach-<lb/>
&#x017F;amkeit und erhabne Tugend, die ihres gleichen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">K 5</fw><fw place="bottom" type="catch">nicht</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[153/0159] weſen, daß ich mir vornahm, mich ſo gut, als ich koͤnnte, zu beruhigen, und zu warten, bis Sie es fuͤr dienlich finden wuͤrden, an mich zu ſchreiben. Allein ich konnte meine Ungedult nur auf wenige Tage im Zaum halten: und den 20ten Jun. ſchrieb ich einen harten Brief an Sie; den Sie, wie ich finde, nicht bekommen haben. Was fuͤr ein ungluͤckliches Schickſal, liebſte Freundinn, hat ſich, von dem erſten Anfange an bis auf dieſe Stunde, in Jhrer Begebenheit ge- zeiget! Haͤtte meine Mutter erlaubet ‒ ‒ Jedoch kann ich dieſe tadeln: da Jhr Va- ter und Jhre Mutter am Leben ſind, die ſo viel zu verantworten haben? ‒ ‒ So viel! ‒ ‒ als kein Vater und keine Mutter, in Betrachtung des Kindes, das ſie getrieben, verfolget, bloßge- ſtellet, aufgegeben haben ‒ ‒ jemals zu verant- worten gehabt! Noch einmal muß ich den verruchten Boͤſe- wicht verfluchen ‒ ‒ Wiewohl, ich habe es ſchon vorher geſagt, alle Worte ſind zu wenig und rei- chen nicht ſo weit, als es noͤthig waͤre! Sehen wir aber nicht an den erſchrecklichen Meineiden und Betruͤgereyen dieſes Menſchen, was liederliche Leute und Liebhaber der ſo genann- ten freyen Lebensart zu thun geneigt ſind, wenn ſie ein junges Frauenzimmer in ihre Gewalt be- kommen? Es iſt wahrſcheinlich, daß er die un- leidliche Vermeſſenheit haben mochte, einen leich- tern Sieg zu hoffen. Allein da Jhre Wach- ſamkeit und erhabne Tugend, die ihres gleichen nicht K 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/159
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/159>, abgerufen am 24.11.2024.