Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite


"Was kann ich denn anders wünschen, mei-
"ne liebste, meine einzige Freundinn, als nur
"den Tod? - - Und was ist der Tod, wenn man
"alles erwäget? Er ist nur der Beschluß eines
"sterblichen Lebens. Er ist nur die Vollendung
"eines vorgesetzten Laufes; eine erquickende Her-
"berge nach einer beschwerlichen Reise; das En-
"de eines sorgevollen und mühsamen Lebens;
"und, wenn er glücklich ausfällt, der Anfang zu
"einem Leben in unsterblicher Glückseligkeit.

"Wenn ich nun nicht sterbe: so kann es sich
"vielleicht zutragen, daß ich überfallen werde,
"wenn ich weniger dazu bereit bin. Wäre ich
"denen Unglücksfällen entgangen, unter welchen
"ich seufze: so hätte es mitten in einer freudigen
"und erwartungsvollen Hoffnung geschehen mö-
"gen; wenn mein Herz vor Verlangen nach
"dem Leben ängstlich und heftig geschlagen, und
"die Eitelkeit dieser Erden mich eingenommen
"hätte.

"Nun aber, meine Wertheste, erlauben Sie
"mir dieß zu Jhrer Befriedigung zu sagen, nun
"wünsche ich zwar nicht zu leben: jedoch möchte
"ich auch nicht, wie ein nichtswürdiger und feiger
"Soldat, meinen Posten verlassen, wenn ich ihn
"behaupten kann, und es meine Schuldigkeit
"ist, ihn zu behaupten.

"Jch bin freylich, mehr als einmal, durch so
"sündliche Gedanken getrieben worden. Aber
"es war in meiner äußersten Beklemmung.
"Einmal, insonderheit, das habe ich Ursache zu

"glau-
H h 5


„Was kann ich denn anders wuͤnſchen, mei-
„ne liebſte, meine einzige Freundinn, als nur
„den Tod? ‒ ‒ Und was iſt der Tod, wenn man
„alles erwaͤget? Er iſt nur der Beſchluß eines
„ſterblichen Lebens. Er iſt nur die Vollendung
„eines vorgeſetzten Laufes; eine erquickende Her-
„berge nach einer beſchwerlichen Reiſe; das En-
„de eines ſorgevollen und muͤhſamen Lebens;
„und, wenn er gluͤcklich ausfaͤllt, der Anfang zu
„einem Leben in unſterblicher Gluͤckſeligkeit.

„Wenn ich nun nicht ſterbe: ſo kann es ſich
„vielleicht zutragen, daß ich uͤberfallen werde,
„wenn ich weniger dazu bereit bin. Waͤre ich
„denen Ungluͤcksfaͤllen entgangen, unter welchen
„ich ſeufze: ſo haͤtte es mitten in einer freudigen
„und erwartungsvollen Hoffnung geſchehen moͤ-
„gen; wenn mein Herz vor Verlangen nach
„dem Leben aͤngſtlich und heftig geſchlagen, und
„die Eitelkeit dieſer Erden mich eingenommen
„haͤtte.

„Nun aber, meine Wertheſte, erlauben Sie
„mir dieß zu Jhrer Befriedigung zu ſagen, nun
„wuͤnſche ich zwar nicht zu leben: jedoch moͤchte
„ich auch nicht, wie ein nichtswuͤrdiger und feiger
„Soldat, meinen Poſten verlaſſen, wenn ich ihn
„behaupten kann, und es meine Schuldigkeit
„iſt, ihn zu behaupten.

„Jch bin freylich, mehr als einmal, durch ſo
„ſuͤndliche Gedanken getrieben worden. Aber
„es war in meiner aͤußerſten Beklemmung.
„Einmal, inſonderheit, das habe ich Urſache zu

„glau-
H h 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0495" n="489"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>&#x201E;Was kann ich denn anders wu&#x0364;n&#x017F;chen, mei-<lb/>
&#x201E;ne lieb&#x017F;te, meine einzige Freundinn, als nur<lb/>
&#x201E;den Tod? &#x2012; &#x2012; Und was i&#x017F;t der Tod, wenn man<lb/>
&#x201E;alles erwa&#x0364;get? Er i&#x017F;t nur der Be&#x017F;chluß eines<lb/>
&#x201E;&#x017F;terblichen Lebens. Er i&#x017F;t nur die Vollendung<lb/>
&#x201E;eines vorge&#x017F;etzten Laufes; eine erquickende Her-<lb/>
&#x201E;berge nach einer be&#x017F;chwerlichen Rei&#x017F;e; das En-<lb/>
&#x201E;de eines &#x017F;orgevollen und mu&#x0364;h&#x017F;amen Lebens;<lb/>
&#x201E;und, wenn er glu&#x0364;cklich ausfa&#x0364;llt, der Anfang zu<lb/>
&#x201E;einem Leben in un&#x017F;terblicher Glu&#x0364;ck&#x017F;eligkeit.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Wenn ich nun nicht &#x017F;terbe: &#x017F;o kann es &#x017F;ich<lb/>
&#x201E;vielleicht zutragen, daß ich u&#x0364;berfallen werde,<lb/>
&#x201E;wenn ich weniger dazu bereit bin. Wa&#x0364;re ich<lb/>
&#x201E;denen Unglu&#x0364;cksfa&#x0364;llen entgangen, unter welchen<lb/>
&#x201E;ich &#x017F;eufze: &#x017F;o ha&#x0364;tte es mitten in einer freudigen<lb/>
&#x201E;und erwartungsvollen Hoffnung ge&#x017F;chehen mo&#x0364;-<lb/>
&#x201E;gen; wenn mein Herz vor Verlangen nach<lb/>
&#x201E;dem Leben a&#x0364;ng&#x017F;tlich und heftig ge&#x017F;chlagen, und<lb/>
&#x201E;die Eitelkeit die&#x017F;er Erden mich eingenommen<lb/>
&#x201E;ha&#x0364;tte.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Nun aber, meine Werthe&#x017F;te, erlauben Sie<lb/>
&#x201E;mir dieß zu Jhrer Befriedigung zu &#x017F;agen, nun<lb/>
&#x201E;wu&#x0364;n&#x017F;che ich zwar nicht zu leben: jedoch mo&#x0364;chte<lb/>
&#x201E;ich auch nicht, wie ein nichtswu&#x0364;rdiger und feiger<lb/>
&#x201E;Soldat, meinen Po&#x017F;ten verla&#x017F;&#x017F;en, wenn ich ihn<lb/>
&#x201E;behaupten <hi rendition="#fr">kann,</hi> und es meine <hi rendition="#fr">Schuldigkeit</hi><lb/>
&#x201E;i&#x017F;t, ihn zu behaupten.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Jch bin freylich, mehr als einmal, durch &#x017F;o<lb/>
&#x201E;&#x017F;u&#x0364;ndliche Gedanken getrieben worden. Aber<lb/>
&#x201E;es war in meiner a&#x0364;ußer&#x017F;ten Beklemmung.<lb/>
&#x201E;Einmal, in&#x017F;onderheit, das habe ich Ur&#x017F;ache zu<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H h 5</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x201E;glau-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[489/0495] „Was kann ich denn anders wuͤnſchen, mei- „ne liebſte, meine einzige Freundinn, als nur „den Tod? ‒ ‒ Und was iſt der Tod, wenn man „alles erwaͤget? Er iſt nur der Beſchluß eines „ſterblichen Lebens. Er iſt nur die Vollendung „eines vorgeſetzten Laufes; eine erquickende Her- „berge nach einer beſchwerlichen Reiſe; das En- „de eines ſorgevollen und muͤhſamen Lebens; „und, wenn er gluͤcklich ausfaͤllt, der Anfang zu „einem Leben in unſterblicher Gluͤckſeligkeit. „Wenn ich nun nicht ſterbe: ſo kann es ſich „vielleicht zutragen, daß ich uͤberfallen werde, „wenn ich weniger dazu bereit bin. Waͤre ich „denen Ungluͤcksfaͤllen entgangen, unter welchen „ich ſeufze: ſo haͤtte es mitten in einer freudigen „und erwartungsvollen Hoffnung geſchehen moͤ- „gen; wenn mein Herz vor Verlangen nach „dem Leben aͤngſtlich und heftig geſchlagen, und „die Eitelkeit dieſer Erden mich eingenommen „haͤtte. „Nun aber, meine Wertheſte, erlauben Sie „mir dieß zu Jhrer Befriedigung zu ſagen, nun „wuͤnſche ich zwar nicht zu leben: jedoch moͤchte „ich auch nicht, wie ein nichtswuͤrdiger und feiger „Soldat, meinen Poſten verlaſſen, wenn ich ihn „behaupten kann, und es meine Schuldigkeit „iſt, ihn zu behaupten. „Jch bin freylich, mehr als einmal, durch ſo „ſuͤndliche Gedanken getrieben worden. Aber „es war in meiner aͤußerſten Beklemmung. „Einmal, inſonderheit, das habe ich Urſache zu „glau- H h 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/495
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/495>, abgerufen am 18.09.2024.