Der hunderte Brief von Fräulein Clarissa Harlowe an ihre Mutter.
Sonnabends, den 5ten Aug.
Gnädige Frau.
Keine Missethäterinn, die durch eigne Ueber- zeugung niedergeschlagen war, hat sich je- mals ihrem zornigen und gerechten Richter mit größerer Ehrfurcht oder einer aufrichtigern Zer- knirschung genähert, als ich mich Jhnen durch diese Zeilen nähere.
Jch muß in der That gestehen, daß, wenn weine demüthige Bitte nicht meine künftige Wohlfarth betroffen hätte, ich mich nicht unter- standen haben würde, mir diese Freyheit zu neh- men. Allein die Sache liegt mir so sehr am Herzen, daß ich sie für etwas ansehe, welches nächst der Vergebung Gottes des Allmächtigen, sür mich schlechterdings nothwendig ist.
Hätte meine glückliche Schwester meinen Jammer gekannt: so würde sie mein Herz nicht, wie sie gethan hat, durch eine Härte gequälet haben, welche ich nothwendig für unfreundlich und unschwesterlich halten muß.
Jedoch es stehet mir nicht zu, mich über eine Unfreundlichkeit von ihr zu beklagen. Weil ihr aber zu schreiben beliebt, daß man sehen müsse,
daß
Der hunderte Brief von Fraͤulein Clariſſa Harlowe an ihre Mutter.
Sonnabends, den 5ten Aug.
Gnaͤdige Frau.
Keine Miſſethaͤterinn, die durch eigne Ueber- zeugung niedergeſchlagen war, hat ſich je- mals ihrem zornigen und gerechten Richter mit groͤßerer Ehrfurcht oder einer aufrichtigern Zer- knirſchung genaͤhert, als ich mich Jhnen durch dieſe Zeilen naͤhere.
Jch muß in der That geſtehen, daß, wenn weine demuͤthige Bitte nicht meine kuͤnftige Wohlfarth betroffen haͤtte, ich mich nicht unter- ſtanden haben wuͤrde, mir dieſe Freyheit zu neh- men. Allein die Sache liegt mir ſo ſehr am Herzen, daß ich ſie fuͤr etwas anſehe, welches naͤchſt der Vergebung Gottes des Allmaͤchtigen, ſuͤr mich ſchlechterdings nothwendig iſt.
Haͤtte meine gluͤckliche Schweſter meinen Jammer gekannt: ſo wuͤrde ſie mein Herz nicht, wie ſie gethan hat, durch eine Haͤrte gequaͤlet haben, welche ich nothwendig fuͤr unfreundlich und unſchweſterlich halten muß.
Jedoch es ſtehet mir nicht zu, mich uͤber eine Unfreundlichkeit von ihr zu beklagen. Weil ihr aber zu ſchreiben beliebt, daß man ſehen muͤſſe,
daß
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0702"n="696"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="2"><head><hirendition="#fr">Der hunderte Brief</hi><lb/>
von<lb/><hirendition="#fr">Fraͤulein Clariſſa Harlowe an ihre Mutter.</hi></head><lb/><dateline><hirendition="#et">Sonnabends, den 5ten Aug.</hi></dateline><lb/><salute><hirendition="#b">Gnaͤdige Frau.</hi></salute><lb/><p><hirendition="#in">K</hi>eine Miſſethaͤterinn, die durch eigne Ueber-<lb/>
zeugung niedergeſchlagen war, hat ſich je-<lb/>
mals ihrem zornigen und gerechten Richter mit<lb/>
groͤßerer Ehrfurcht oder einer aufrichtigern Zer-<lb/>
knirſchung genaͤhert, als ich mich Jhnen durch<lb/>
dieſe Zeilen naͤhere.</p><lb/><p>Jch muß in der That geſtehen, daß, wenn<lb/>
weine demuͤthige Bitte nicht meine kuͤnftige<lb/>
Wohlfarth betroffen haͤtte, ich mich nicht unter-<lb/>ſtanden haben wuͤrde, mir dieſe Freyheit zu neh-<lb/>
men. Allein die Sache liegt mir ſo ſehr am<lb/>
Herzen, daß ich ſie fuͤr etwas anſehe, welches<lb/>
naͤchſt der Vergebung Gottes des Allmaͤchtigen,<lb/>ſuͤr mich ſchlechterdings nothwendig iſt.</p><lb/><p>Haͤtte meine gluͤckliche Schweſter meinen<lb/>
Jammer gekannt: ſo wuͤrde ſie mein Herz nicht,<lb/>
wie ſie gethan hat, durch eine Haͤrte gequaͤlet<lb/>
haben, welche ich nothwendig fuͤr unfreundlich<lb/>
und unſchweſterlich halten muß.</p><lb/><p>Jedoch es ſtehet mir nicht zu, mich uͤber eine<lb/>
Unfreundlichkeit von ihr zu beklagen. Weil ihr<lb/>
aber zu ſchreiben beliebt, daß man ſehen muͤſſe,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">daß</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[696/0702]
Der hunderte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an ihre Mutter.
Sonnabends, den 5ten Aug.
Gnaͤdige Frau.
Keine Miſſethaͤterinn, die durch eigne Ueber-
zeugung niedergeſchlagen war, hat ſich je-
mals ihrem zornigen und gerechten Richter mit
groͤßerer Ehrfurcht oder einer aufrichtigern Zer-
knirſchung genaͤhert, als ich mich Jhnen durch
dieſe Zeilen naͤhere.
Jch muß in der That geſtehen, daß, wenn
weine demuͤthige Bitte nicht meine kuͤnftige
Wohlfarth betroffen haͤtte, ich mich nicht unter-
ſtanden haben wuͤrde, mir dieſe Freyheit zu neh-
men. Allein die Sache liegt mir ſo ſehr am
Herzen, daß ich ſie fuͤr etwas anſehe, welches
naͤchſt der Vergebung Gottes des Allmaͤchtigen,
ſuͤr mich ſchlechterdings nothwendig iſt.
Haͤtte meine gluͤckliche Schweſter meinen
Jammer gekannt: ſo wuͤrde ſie mein Herz nicht,
wie ſie gethan hat, durch eine Haͤrte gequaͤlet
haben, welche ich nothwendig fuͤr unfreundlich
und unſchweſterlich halten muß.
Jedoch es ſtehet mir nicht zu, mich uͤber eine
Unfreundlichkeit von ihr zu beklagen. Weil ihr
aber zu ſchreiben beliebt, daß man ſehen muͤſſe,
daß
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 696. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/702>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.