Sagen sie mir die Wahrheit, Frau Lovick. Wo kann ich diese liebe Fräulein sehen? Bey meiner Seele, ich will sie weder schrecken, noch beleidigen. Jch will sie nur bitten, mich eine hal- be Viertelstunde anzuhören: und, wo sie es so verlangt, will ich sie hernach niemals mehr beun- ruhigen.
Mein Herr, versetzte die Witwe, es würde der Tod für die Fräulein seyn, sie zu sehen. Sie ist die verwichne Nacht zu Hause gewesen: ich will ihnen die Wahrheit sagen. Es hätte sich auch für ihren Zustand besser geschickt, den gan- zen Tag im Bette zu bleiben. Sie käme zu Hau- se, sagte sie, um zu sterben: und wo sie ihren Besuch nicht vermeiden könnte, würde sie nicht im Stande seyn, vor ihnen zu fliehen; ja sie glaubte, sie würde vor ihren Augen sterben.
Und doch diesen Morgen frühe wieder auszu- gehen! Wie kann das seyn, Frau Lovick?
Ey, mein Herr, sie hatte nicht zwo Stunden Ruhe, aus Furcht vor ihnen. Jhre Furcht mach- te sie stark: und dafür wird sie leiden, wenn die Furcht vorüber ist. Weil sie sich nun, je mehr sie daran dachte, desto weniger im Stande fand, zu bleiben, und ihren Besuch anzunehmen: so ließ sie eine Sänfte kommen, und hat sich weg- tragen lassen, niemand weiß, wohin. Jedoch glaube ich, daß sie willens war, sich an die Was- serseite bringen zu lassen, um ein Boot zu nehmen. Denn sie kann es mit einer Kutsche nicht aus-
halten.
Sagen ſie mir die Wahrheit, Frau Lovick. Wo kann ich dieſe liebe Fraͤulein ſehen? Bey meiner Seele, ich will ſie weder ſchrecken, noch beleidigen. Jch will ſie nur bitten, mich eine hal- be Viertelſtunde anzuhoͤren: und, wo ſie es ſo verlangt, will ich ſie hernach niemals mehr beun- ruhigen.
Mein Herr, verſetzte die Witwe, es wuͤrde der Tod fuͤr die Fraͤulein ſeyn, ſie zu ſehen. Sie iſt die verwichne Nacht zu Hauſe geweſen: ich will ihnen die Wahrheit ſagen. Es haͤtte ſich auch fuͤr ihren Zuſtand beſſer geſchickt, den gan- zen Tag im Bette zu bleiben. Sie kaͤme zu Hau- ſe, ſagte ſie, um zu ſterben: und wo ſie ihren Beſuch nicht vermeiden koͤnnte, wuͤrde ſie nicht im Stande ſeyn, vor ihnen zu fliehen; ja ſie glaubte, ſie wuͤrde vor ihren Augen ſterben.
Und doch dieſen Morgen fruͤhe wieder auszu- gehen! Wie kann das ſeyn, Frau Lovick?
Ey, mein Herr, ſie hatte nicht zwo Stunden Ruhe, aus Furcht vor ihnen. Jhre Furcht mach- te ſie ſtark: und dafuͤr wird ſie leiden, wenn die Furcht voruͤber iſt. Weil ſie ſich nun, je mehr ſie daran dachte, deſto weniger im Stande fand, zu bleiben, und ihren Beſuch anzunehmen: ſo ließ ſie eine Saͤnfte kommen, und hat ſich weg- tragen laſſen, niemand weiß, wohin. Jedoch glaube ich, daß ſie willens war, ſich an die Waſ- ſerſeite bringen zu laſſen, um ein Boot zu nehmen. Denn ſie kann es mit einer Kutſche nicht aus-
halten.
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Sagen ſie mir die Wahrheit, Frau Lovick.
Wo kann ich dieſe liebe Fraͤulein ſehen? Bey
meiner Seele, ich will ſie weder ſchrecken, noch
beleidigen. Jch will ſie nur bitten, mich eine hal-
be Viertelſtunde anzuhoͤren: und, wo ſie es ſo
verlangt, will ich ſie hernach niemals mehr beun-
ruhigen.
Mein Herr, verſetzte die Witwe, es wuͤrde
der Tod fuͤr die Fraͤulein ſeyn, ſie zu ſehen. Sie
iſt die verwichne Nacht zu Hauſe geweſen: ich
will ihnen die Wahrheit ſagen. Es haͤtte ſich
auch fuͤr ihren Zuſtand beſſer geſchickt, den gan-
zen Tag im Bette zu bleiben. Sie kaͤme zu Hau-
ſe, ſagte ſie, um zu ſterben: und wo ſie ihren
Beſuch nicht vermeiden koͤnnte, wuͤrde ſie nicht
im Stande ſeyn, vor ihnen zu fliehen; ja ſie
glaubte, ſie wuͤrde vor ihren Augen ſterben.
Und doch dieſen Morgen fruͤhe wieder auszu-
gehen! Wie kann das ſeyn, Frau Lovick?
Ey, mein Herr, ſie hatte nicht zwo Stunden
Ruhe, aus Furcht vor ihnen. Jhre Furcht mach-
te ſie ſtark: und dafuͤr wird ſie leiden, wenn die
Furcht voruͤber iſt. Weil ſie ſich nun, je mehr
ſie daran dachte, deſto weniger im Stande fand,
zu bleiben, und ihren Beſuch anzunehmen: ſo
ließ ſie eine Saͤnfte kommen, und hat ſich weg-
tragen laſſen, niemand weiß, wohin. Jedoch
glaube ich, daß ſie willens war, ſich an die Waſ-
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Denn ſie kann es mit einer Kutſche nicht aus-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 827. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/833>, abgerufen am 24.11.2024.
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