noch unter der Quaal und Schande von denselben arbeiten: so wird das von einigen bloß für eine großprahlerische Barmherzigkeit eines kleinmü- thigen Herzens, das sie aus bebender Furcht nicht bestrafet, angesehen werden. Das Mittel, wel- ches ich vorschlage, ist hart: aber welche Strafe kann härter seyn, als die Jhnen widerfahrne Be- leidigung? Oder wie wird man glauben, daß uns Beleidigungen schmerzen, worüber wir uns nie- mals auf eine anständige Art beklagen?
Jch bin versichert, Fräulein Clarissa Harlo- we mag noch so sehr beleidigt und unterdrücket seyn, Sie bleibt doch in Jhren Grundsätzen von Ehre und Tugend unbeweget: und wenn. Sie gleich lieber sterben wollte, als verdienen, daß Jhre Sittsamkeit in Zweifel gezogen werde; so wird Sie doch keine Wahrheit der Sittsamkeit zuwider achten, welche zur Rettung der Unschuld und Keuschheit geäußert werden muß. Wenig, gar wenig Unterschied, wertheste Fräulein, ist zwi- schen einem unterdrückten und einem falschen Zeugnisse.
Es ist ein schrecklicher Umstand, ich gestehe es noch einmal, für ein junges Frauenzimmer von Jhrer zärtlichen Gemüthsart, daß sie genö- thigt ist, eine so anstößige Begebenheit vor öffent- lichem Gerichte zu erzählen: allein es ist ein noch weit ärgerer Vorwurf, daß sie eine so tödtliche Beleidigung unempfunden hingehen lassen sollte.
Gewissen, Ehre, Gerechtigkeit und die Für- sorge des Himmels sind auf Jhrer Seiten: und
die
noch unter der Quaal und Schande von denſelben arbeiten: ſo wird das von einigen bloß fuͤr eine großprahleriſche Barmherzigkeit eines kleinmuͤ- thigen Herzens, das ſie aus bebender Furcht nicht beſtrafet, angeſehen werden. Das Mittel, wel- ches ich vorſchlage, iſt hart: aber welche Strafe kann haͤrter ſeyn, als die Jhnen widerfahrne Be- leidigung? Oder wie wird man glauben, daß uns Beleidigungen ſchmerzen, woruͤber wir uns nie- mals auf eine anſtaͤndige Art beklagen?
Jch bin verſichert, Fraͤulein Clariſſa Harlo- we mag noch ſo ſehr beleidigt und unterdruͤcket ſeyn, Sie bleibt doch in Jhren Grundſaͤtzen von Ehre und Tugend unbeweget: und wenn. Sie gleich lieber ſterben wollte, als verdienen, daß Jhre Sittſamkeit in Zweifel gezogen werde; ſo wird Sie doch keine Wahrheit der Sittſamkeit zuwider achten, welche zur Rettung der Unſchuld und Keuſchheit geaͤußert werden muß. Wenig, gar wenig Unterſchied, wertheſte Fraͤulein, iſt zwi- ſchen einem unterdruͤckten und einem falſchen Zeugniſſe.
Es iſt ein ſchrecklicher Umſtand, ich geſtehe es noch einmal, fuͤr ein junges Frauenzimmer von Jhrer zaͤrtlichen Gemuͤthsart, daß ſie genoͤ- thigt iſt, eine ſo anſtoͤßige Begebenheit vor oͤffent- lichem Gerichte zu erzaͤhlen: allein es iſt ein noch weit aͤrgerer Vorwurf, daß ſie eine ſo toͤdtliche Beleidigung unempfunden hingehen laſſen ſollte.
Gewiſſen, Ehre, Gerechtigkeit und die Fuͤr- ſorge des Himmels ſind auf Jhrer Seiten: und
die
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noch unter der Quaal und Schande von denſelben
arbeiten: ſo wird das von einigen bloß fuͤr eine
großprahleriſche Barmherzigkeit eines kleinmuͤ-
thigen Herzens, das ſie aus bebender Furcht nicht
beſtrafet, angeſehen werden. Das Mittel, wel-
ches ich vorſchlage, iſt hart: aber welche Strafe
kann haͤrter ſeyn, als die Jhnen widerfahrne Be-
leidigung? Oder wie wird man glauben, daß uns
Beleidigungen ſchmerzen, woruͤber wir uns nie-
mals auf eine anſtaͤndige Art beklagen?
Jch bin verſichert, Fraͤulein Clariſſa Harlo-
we mag noch ſo ſehr beleidigt und unterdruͤcket
ſeyn, Sie bleibt doch in Jhren Grundſaͤtzen von
Ehre und Tugend unbeweget: und wenn. Sie
gleich lieber ſterben wollte, als verdienen, daß
Jhre Sittſamkeit in Zweifel gezogen werde; ſo
wird Sie doch keine Wahrheit der Sittſamkeit
zuwider achten, welche zur Rettung der Unſchuld
und Keuſchheit geaͤußert werden muß. Wenig,
gar wenig Unterſchied, wertheſte Fraͤulein, iſt zwi-
ſchen einem unterdruͤckten und einem falſchen
Zeugniſſe.
Es iſt ein ſchrecklicher Umſtand, ich geſtehe
es noch einmal, fuͤr ein junges Frauenzimmer
von Jhrer zaͤrtlichen Gemuͤthsart, daß ſie genoͤ-
thigt iſt, eine ſo anſtoͤßige Begebenheit vor oͤffent-
lichem Gerichte zu erzaͤhlen: allein es iſt ein noch
weit aͤrgerer Vorwurf, daß ſie eine ſo toͤdtliche
Beleidigung unempfunden hingehen laſſen ſollte.
Gewiſſen, Ehre, Gerechtigkeit und die Fuͤr-
ſorge des Himmels ſind auf Jhrer Seiten: und
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/102>, abgerufen am 24.11.2024.
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