Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751.

Bild:
<< vorherige Seite



Freund ist ohne das schon um eine ganze Stuffe
zu niedrig, und du bringst ihn noch immer nie-
driger herunter. Dieß Liebkosen in seinen nieder-
geschlagenen Stunden, und dein weibisches Wei-
nen mit ihm, ist nicht der rechte Weg: gewiß
nicht. Wenn unser Lovelace hier wäre: so wür-
de er dir das sagen.

Du bist ein unbeweglicher Mensch, antwor-
tete ich. Du schickst dich nicht dazu, daß du bey
einem Trauerspiel zugegen seyst, wovon du das
Schrecken nicht eher zu fühlen im Stande seyn
wirst, als bis du es an dir selber fühlest: und wo
du alsdenn nur noch Zeit zu fühlen hast; so se-
tze ich mein Leben gegen deines, daß du dich eben
so kläglich bezeigest, als diejenigen, welche du für
die kläglichsten hältst.

Darauf wandte ich mich zu dem armen Kran-
ken. Thränen, mein lieber Belton, sind nicht
Zeichen eines weibischen, sondern eines mensch-
lichen Gemüths. Sie erleichtern das überladene
Herz, welches bersten würde, wenn es diese ange-
nehme und natürliche Erleichterung nicht hätte.
Shakespeare sagt:

Laß ja die Schmerzen sprechen:
Der Kummer, der nicht spricht,
Verheelet sich darum dem schweren Herzen
nicht;
Er zischelt ihm doch zu, und nöthigt es, zu
brechen.

Jch weiß, mein lieber Belton, du pflegtest
an den Stellen, die aus den Dichtern angeführet

wer-



Freund iſt ohne das ſchon um eine ganze Stuffe
zu niedrig, und du bringſt ihn noch immer nie-
driger herunter. Dieß Liebkoſen in ſeinen nieder-
geſchlagenen Stunden, und dein weibiſches Wei-
nen mit ihm, iſt nicht der rechte Weg: gewiß
nicht. Wenn unſer Lovelace hier waͤre: ſo wuͤr-
de er dir das ſagen.

Du biſt ein unbeweglicher Menſch, antwor-
tete ich. Du ſchickſt dich nicht dazu, daß du bey
einem Trauerſpiel zugegen ſeyſt, wovon du das
Schrecken nicht eher zu fuͤhlen im Stande ſeyn
wirſt, als bis du es an dir ſelber fuͤhleſt: und wo
du alsdenn nur noch Zeit zu fuͤhlen haſt; ſo ſe-
tze ich mein Leben gegen deines, daß du dich eben
ſo klaͤglich bezeigeſt, als diejenigen, welche du fuͤr
die klaͤglichſten haͤltſt.

Darauf wandte ich mich zu dem armen Kran-
ken. Thraͤnen, mein lieber Belton, ſind nicht
Zeichen eines weibiſchen, ſondern eines menſch-
lichen Gemuͤths. Sie erleichtern das uͤberladene
Herz, welches berſten wuͤrde, wenn es dieſe ange-
nehme und natuͤrliche Erleichterung nicht haͤtte.
Shakeſpeare ſagt:

Laß ja die Schmerzen ſprechen:
Der Kummer, der nicht ſpricht,
Verheelet ſich darum dem ſchweren Herzen
nicht;
Er ziſchelt ihm doch zu, und noͤthigt es, zu
brechen.

Jch weiß, mein lieber Belton, du pflegteſt
an den Stellen, die aus den Dichtern angefuͤhret

wer-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0012" n="6"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Freund i&#x017F;t ohne das &#x017F;chon um eine ganze Stuffe<lb/>
zu niedrig, und du bring&#x017F;t ihn noch immer nie-<lb/>
driger herunter. Dieß Liebko&#x017F;en in &#x017F;einen nieder-<lb/>
ge&#x017F;chlagenen Stunden, und dein weibi&#x017F;ches Wei-<lb/>
nen mit ihm, i&#x017F;t nicht der rechte Weg: gewiß<lb/>
nicht. Wenn un&#x017F;er Lovelace hier wa&#x0364;re: &#x017F;o wu&#x0364;r-<lb/>
de er dir das &#x017F;agen.</p><lb/>
          <p>Du bi&#x017F;t ein unbeweglicher Men&#x017F;ch, antwor-<lb/>
tete ich. Du &#x017F;chick&#x017F;t dich nicht dazu, daß du bey<lb/>
einem Trauer&#x017F;piel zugegen &#x017F;ey&#x017F;t, wovon du das<lb/>
Schrecken nicht eher zu fu&#x0364;hlen im Stande &#x017F;eyn<lb/>
wir&#x017F;t, als bis du es an dir &#x017F;elber fu&#x0364;hle&#x017F;t: und wo<lb/>
du alsdenn nur noch <hi rendition="#fr">Zeit zu fu&#x0364;hlen</hi> ha&#x017F;t; &#x017F;o &#x017F;e-<lb/>
tze ich mein Leben gegen deines, daß du dich eben<lb/>
&#x017F;o kla&#x0364;glich bezeige&#x017F;t, als diejenigen, welche du fu&#x0364;r<lb/>
die <hi rendition="#fr">kla&#x0364;glich&#x017F;ten</hi> ha&#x0364;lt&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Darauf wandte ich mich zu dem armen Kran-<lb/>
ken. Thra&#x0364;nen, mein lieber Belton, &#x017F;ind nicht<lb/>
Zeichen eines <hi rendition="#fr">weibi&#x017F;chen,</hi> &#x017F;ondern eines men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Gemu&#x0364;ths. Sie erleichtern das u&#x0364;berladene<lb/>
Herz, welches ber&#x017F;ten wu&#x0364;rde, wenn es die&#x017F;e ange-<lb/>
nehme und natu&#x0364;rliche Erleichterung nicht ha&#x0364;tte.<lb/>
Shake&#x017F;peare &#x017F;agt:</p><lb/>
          <cit>
            <quote>
              <lg type="poem">
                <l>Laß ja die Schmerzen &#x017F;prechen:</l><lb/>
                <l>Der Kummer, der nicht &#x017F;pricht,</l><lb/>
                <l>Verheelet &#x017F;ich darum dem &#x017F;chweren Herzen</l><lb/>
                <l> <hi rendition="#et">nicht;</hi> </l><lb/>
                <l>Er zi&#x017F;chelt ihm doch zu, und no&#x0364;thigt es, zu</l><lb/>
                <l> <hi rendition="#et">brechen.</hi> </l>
              </lg>
            </quote>
          </cit><lb/>
          <p>Jch weiß, mein lieber Belton, du pflegte&#x017F;t<lb/>
an den Stellen, die aus den Dichtern angefu&#x0364;hret<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wer-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0012] Freund iſt ohne das ſchon um eine ganze Stuffe zu niedrig, und du bringſt ihn noch immer nie- driger herunter. Dieß Liebkoſen in ſeinen nieder- geſchlagenen Stunden, und dein weibiſches Wei- nen mit ihm, iſt nicht der rechte Weg: gewiß nicht. Wenn unſer Lovelace hier waͤre: ſo wuͤr- de er dir das ſagen. Du biſt ein unbeweglicher Menſch, antwor- tete ich. Du ſchickſt dich nicht dazu, daß du bey einem Trauerſpiel zugegen ſeyſt, wovon du das Schrecken nicht eher zu fuͤhlen im Stande ſeyn wirſt, als bis du es an dir ſelber fuͤhleſt: und wo du alsdenn nur noch Zeit zu fuͤhlen haſt; ſo ſe- tze ich mein Leben gegen deines, daß du dich eben ſo klaͤglich bezeigeſt, als diejenigen, welche du fuͤr die klaͤglichſten haͤltſt. Darauf wandte ich mich zu dem armen Kran- ken. Thraͤnen, mein lieber Belton, ſind nicht Zeichen eines weibiſchen, ſondern eines menſch- lichen Gemuͤths. Sie erleichtern das uͤberladene Herz, welches berſten wuͤrde, wenn es dieſe ange- nehme und natuͤrliche Erleichterung nicht haͤtte. Shakeſpeare ſagt: Laß ja die Schmerzen ſprechen: Der Kummer, der nicht ſpricht, Verheelet ſich darum dem ſchweren Herzen nicht; Er ziſchelt ihm doch zu, und noͤthigt es, zu brechen. Jch weiß, mein lieber Belton, du pflegteſt an den Stellen, die aus den Dichtern angefuͤhret wer-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/12
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/12>, abgerufen am 21.11.2024.