vorsetzlichste Bosheit ertheilen soll? Nein, mein Herr; erlauben Sie mir zu sagen, daß Jhre Ba- se Clarissa, wenn sie auch nach aller Wahrschein- lichkeit noch viele Jahre, und zwar, wofern sie diesen Mann nicht heyrathete, in Mangel und Dürftigkeit, von allen ihren Freunden verachtet und verlassen, zu leben hätte, die Bequemlichkei- ten des Lebens, ja das Leben selbst, nicht so hoch schätze, daß sie durch eine solche Rechtfertigung, die sie der Bosheit geben würde, das eine wieder zu erlangen, oder das andere zu bewahren suchen möchte: eine Rechtfertigung, die den Schänder ihrer Ehre belohnen würde; wofern sie ihre Pflicht beobachten sollte.
Es ist auch nicht so viel dem Stolz, als gu- ten Grundsätzen zuzuschreiben, daß ich dieß sage. Wie? mein Herr; wenn Tugend, wenn Keusch- heit die Krone eines Frauenzimmers, und sonder- lich einer Ehegattinn, ist: soll ihre Base sich krie- chend erniedrigen, denjenigen Menschen zu heyra- then, der auf ihre Tugend und Keuschheit keinen Versuch unternehmen konnte, ohne nur unter ei- ner Vermuthung, daß sie im Stande wäre, seine dargebotene Hand anzunehmen, wenn er sich in der schändlichen Meynung, die er von ihr gefasset hatte, betrogen gefunden hätte? Bisher hat er keine Ursache gehabt, mich für eine Person voll niederträchtiger Schwachheiten zu halten: und ich will ihm keine so offenbare Probe geben, daß ich in einem Stücke, worinn es höchst strafbar seyn würde, voll niederträchtiger Schwachheit be-
funden
vorſetzlichſte Bosheit ertheilen ſoll? Nein, mein Herr; erlauben Sie mir zu ſagen, daß Jhre Ba- ſe Clariſſa, wenn ſie auch nach aller Wahrſchein- lichkeit noch viele Jahre, und zwar, wofern ſie dieſen Mann nicht heyrathete, in Mangel und Duͤrftigkeit, von allen ihren Freunden verachtet und verlaſſen, zu leben haͤtte, die Bequemlichkei- ten des Lebens, ja das Leben ſelbſt, nicht ſo hoch ſchaͤtze, daß ſie durch eine ſolche Rechtfertigung, die ſie der Bosheit geben wuͤrde, das eine wieder zu erlangen, oder das andere zu bewahren ſuchen moͤchte: eine Rechtfertigung, die den Schaͤnder ihrer Ehre belohnen wuͤrde; wofern ſie ihre Pflicht beobachten ſollte.
Es iſt auch nicht ſo viel dem Stolz, als gu- ten Grundſaͤtzen zuzuſchreiben, daß ich dieß ſage. Wie? mein Herr; wenn Tugend, wenn Keuſch- heit die Krone eines Frauenzimmers, und ſonder- lich einer Ehegattinn, iſt: ſoll ihre Baſe ſich krie- chend erniedrigen, denjenigen Menſchen zu heyra- then, der auf ihre Tugend und Keuſchheit keinen Verſuch unternehmen konnte, ohne nur unter ei- ner Vermuthung, daß ſie im Stande waͤre, ſeine dargebotene Hand anzunehmen, wenn er ſich in der ſchaͤndlichen Meynung, die er von ihr gefaſſet hatte, betrogen gefunden haͤtte? Bisher hat er keine Urſache gehabt, mich fuͤr eine Perſon voll niedertraͤchtiger Schwachheiten zu halten: und ich will ihm keine ſo offenbare Probe geben, daß ich in einem Stuͤcke, worinn es hoͤchſt ſtrafbar ſeyn wuͤrde, voll niedertraͤchtiger Schwachheit be-
funden
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0264"n="258"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
vorſetzlichſte Bosheit ertheilen ſoll? Nein, mein<lb/>
Herr; erlauben Sie mir zu ſagen, daß Jhre Ba-<lb/>ſe Clariſſa, wenn ſie auch nach aller Wahrſchein-<lb/>
lichkeit noch viele Jahre, und <hirendition="#fr">zwar,</hi> wofern ſie<lb/>
dieſen Mann nicht heyrathete, in Mangel und<lb/>
Duͤrftigkeit, von allen ihren Freunden verachtet<lb/>
und verlaſſen, zu leben haͤtte, die Bequemlichkei-<lb/>
ten des Lebens, ja das Leben ſelbſt, nicht ſo hoch<lb/>ſchaͤtze, daß ſie durch eine <hirendition="#fr">ſolche</hi> Rechtfertigung,<lb/>
die ſie der Bosheit geben wuͤrde, das eine wieder<lb/>
zu erlangen, oder das andere zu bewahren ſuchen<lb/>
moͤchte: eine Rechtfertigung, die den Schaͤnder<lb/>
ihrer Ehre belohnen wuͤrde; <hirendition="#fr">wofern ſie ihre<lb/>
Pflicht beobachten ſollte.</hi></p><lb/><p>Es iſt auch nicht ſo viel dem Stolz, als gu-<lb/>
ten Grundſaͤtzen zuzuſchreiben, daß ich dieß ſage.<lb/>
Wie? mein Herr; wenn Tugend, wenn Keuſch-<lb/>
heit die Krone eines Frauenzimmers, und ſonder-<lb/>
lich einer Ehegattinn, iſt: ſoll ihre Baſe ſich krie-<lb/>
chend erniedrigen, denjenigen Menſchen zu heyra-<lb/>
then, der auf <hirendition="#fr">ihre</hi> Tugend und Keuſchheit keinen<lb/>
Verſuch unternehmen konnte, ohne nur unter ei-<lb/>
ner Vermuthung, daß ſie im Stande waͤre, ſeine<lb/>
dargebotene Hand anzunehmen, wenn er ſich in<lb/>
der ſchaͤndlichen Meynung, die er von ihr gefaſſet<lb/>
hatte, betrogen gefunden haͤtte? Bisher hat er<lb/>
keine Urſache gehabt, mich fuͤr eine Perſon voll<lb/>
niedertraͤchtiger Schwachheiten zu halten: und<lb/>
ich will ihm keine ſo offenbare Probe geben, daß<lb/>
ich in einem Stuͤcke, worinn es hoͤchſt ſtrafbar<lb/>ſeyn wuͤrde, voll niedertraͤchtiger Schwachheit <hirendition="#fr">be-</hi><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#fr">funden</hi></fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[258/0264]
vorſetzlichſte Bosheit ertheilen ſoll? Nein, mein
Herr; erlauben Sie mir zu ſagen, daß Jhre Ba-
ſe Clariſſa, wenn ſie auch nach aller Wahrſchein-
lichkeit noch viele Jahre, und zwar, wofern ſie
dieſen Mann nicht heyrathete, in Mangel und
Duͤrftigkeit, von allen ihren Freunden verachtet
und verlaſſen, zu leben haͤtte, die Bequemlichkei-
ten des Lebens, ja das Leben ſelbſt, nicht ſo hoch
ſchaͤtze, daß ſie durch eine ſolche Rechtfertigung,
die ſie der Bosheit geben wuͤrde, das eine wieder
zu erlangen, oder das andere zu bewahren ſuchen
moͤchte: eine Rechtfertigung, die den Schaͤnder
ihrer Ehre belohnen wuͤrde; wofern ſie ihre
Pflicht beobachten ſollte.
Es iſt auch nicht ſo viel dem Stolz, als gu-
ten Grundſaͤtzen zuzuſchreiben, daß ich dieß ſage.
Wie? mein Herr; wenn Tugend, wenn Keuſch-
heit die Krone eines Frauenzimmers, und ſonder-
lich einer Ehegattinn, iſt: ſoll ihre Baſe ſich krie-
chend erniedrigen, denjenigen Menſchen zu heyra-
then, der auf ihre Tugend und Keuſchheit keinen
Verſuch unternehmen konnte, ohne nur unter ei-
ner Vermuthung, daß ſie im Stande waͤre, ſeine
dargebotene Hand anzunehmen, wenn er ſich in
der ſchaͤndlichen Meynung, die er von ihr gefaſſet
hatte, betrogen gefunden haͤtte? Bisher hat er
keine Urſache gehabt, mich fuͤr eine Perſon voll
niedertraͤchtiger Schwachheiten zu halten: und
ich will ihm keine ſo offenbare Probe geben, daß
ich in einem Stuͤcke, worinn es hoͤchſt ſtrafbar
ſeyn wuͤrde, voll niedertraͤchtiger Schwachheit be-
funden
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/264>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.