Einstmals, da ich eine Heiserkeit vorschützte, die gewönliche Entschuldigung derer, die sich gern nöthigen lassen, - - "Singen Sie im- "mer, sagte sie, mein Kind, so gut Sie kön- "nen. Je schwerer es Jhnen wird, desto grös- "sere Ursache hat die Gesellschaft, Jhnen ver- "bunden zu seyn. Glauben Sie denn unter "solchen Personen zu seyn, die keine Nachsicht "zu brauchen wissen? Sie sollten singen, mein "Schatz, damit niemand von uns denken mö- "ge, daß Jhre Entschuldigungen aus einem "angenommenen Zwang herrühren."
Zu einer andern Zeit, da ich ganz wol an- gemerkt hatte, daß eine andre junge Fräulein, die gegenwärtig war, besser sang, als ich, und ich desfals vor derselben nicht singen mochte, zog sie mich auf die Seite, und sagte: "Fy! lie- "bes Kind, ist das nicht Stolz? Siehet das "nicht aus, als wenn Sie andern nur haupt- "sächlich desfals gefällig sind, um Beifall zu "gewinnen? Ein edelgesinntes Gemüth wird "sich kein Bedenken machen, Leuten von "Verdiensten den Vorzug zuzugestehen, und "sollte es ihm selbst ein wenig nachtheilig "seyn. Und doch wird es selbst dadurch schon "ein Verdienst haben. Setzen Sie, diese Per- "son, welche Sie übertrift, wäre abwesend, "wer sollte denn, wenn man Jhrem Beispiel "folgen wollte, nach Jhnen fingen? Sie wis- "sen, daß sonst alle andre nur dazu dienen, "Jhre Geschicklichkeit zu erhöhen. Jn War-
"heit,
Einſtmals, da ich eine Heiſerkeit vorſchuͤtzte, die gewoͤnliche Entſchuldigung derer, die ſich gern noͤthigen laſſen, ‒ ‒ „Singen Sie im- „mer, ſagte ſie, mein Kind, ſo gut Sie koͤn- „nen. Je ſchwerer es Jhnen wird, deſto groͤſ- „ſere Urſache hat die Geſellſchaft, Jhnen ver- „bunden zu ſeyn. Glauben Sie denn unter „ſolchen Perſonen zu ſeyn, die keine Nachſicht „zu brauchen wiſſen? Sie ſollten ſingen, mein „Schatz, damit niemand von uns denken moͤ- „ge, daß Jhre Entſchuldigungen aus einem „angenommenen Zwang herruͤhren.”
Zu einer andern Zeit, da ich ganz wol an- gemerkt hatte, daß eine andre junge Fraͤulein, die gegenwaͤrtig war, beſſer ſang, als ich, und ich desfals vor derſelben nicht ſingen mochte, zog ſie mich auf die Seite, und ſagte: „Fy! lie- „bes Kind, iſt das nicht Stolz? Siehet das „nicht aus, als wenn Sie andern nur haupt- „ſaͤchlich desfals gefaͤllig ſind, um Beifall zu „gewinnen? Ein edelgeſinntes Gemuͤth wird „ſich kein Bedenken machen, Leuten von „Verdienſten den Vorzug zuzugeſtehen, und „ſollte es ihm ſelbſt ein wenig nachtheilig „ſeyn. Und doch wird es ſelbſt dadurch ſchon „ein Verdienſt haben. Setzen Sie, dieſe Per- „ſon, welche Sie uͤbertrift, waͤre abweſend, „wer ſollte denn, wenn man Jhrem Beiſpiel „folgen wollte, nach Jhnen fingen? Sie wiſ- „ſen, daß ſonſt alle andre nur dazu dienen, „Jhre Geſchicklichkeit zu erhoͤhen. Jn War-
„heit,
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Einſtmals, da ich eine Heiſerkeit vorſchuͤtzte,
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„mer, ſagte ſie, mein Kind, ſo gut Sie koͤn-
„nen. Je ſchwerer es Jhnen wird, deſto groͤſ-
„ſere Urſache hat die Geſellſchaft, Jhnen ver-
„bunden zu ſeyn. Glauben Sie denn unter
„ſolchen Perſonen zu ſeyn, die keine Nachſicht
„zu brauchen wiſſen? Sie ſollten ſingen, mein
„Schatz, damit niemand von uns denken moͤ-
„ge, daß Jhre Entſchuldigungen aus einem
„angenommenen Zwang herruͤhren.”
Zu einer andern Zeit, da ich ganz wol an-
gemerkt hatte, daß eine andre junge Fraͤulein,
die gegenwaͤrtig war, beſſer ſang, als ich, und
ich desfals vor derſelben nicht ſingen mochte, zog
ſie mich auf die Seite, und ſagte: „Fy! lie-
„bes Kind, iſt das nicht Stolz? Siehet das
„nicht aus, als wenn Sie andern nur haupt-
„ſaͤchlich desfals gefaͤllig ſind, um Beifall zu
„gewinnen? Ein edelgeſinntes Gemuͤth wird
„ſich kein Bedenken machen, Leuten von
„Verdienſten den Vorzug zuzugeſtehen, und
„ſollte es ihm ſelbſt ein wenig nachtheilig
„ſeyn. Und doch wird es ſelbſt dadurch ſchon
„ein Verdienſt haben. Setzen Sie, dieſe Per-
„ſon, welche Sie uͤbertrift, waͤre abweſend,
„wer ſollte denn, wenn man Jhrem Beiſpiel
„folgen wollte, nach Jhnen fingen? Sie wiſ-
„ſen, daß ſonſt alle andre nur dazu dienen,
„Jhre Geſchicklichkeit zu erhoͤhen. Jn War-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753/296>, abgerufen am 22.11.2024.
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