[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753."stellet wird. Ein solches Beispiel bringt den "Stolz der menschlichen Natur zu rechte; es "erweichet das Gemüth des Zuschauers mit Er- "barmen und Mitleiden; es stärket ihn in seinen "eignen Drangsalen, und lehret ihn, daß man "die Tugend der Menschen nicht nach ihrem "Glück abzumessen habe. (*) Jch kann mich "in dem ganzen Alterthum auf keinen Helden "besinnen, der so weit über die menschlichen "Schwachheiten erhaben wäre, daß man ihn "nicht in einer Tragoedie sehr warscheinlich in "Unglück und Elend könnte fallen lassen. Der "Dichter wird noch immer eine herrschende Lei- "denschaft oder Unbesonnenheit in seinem Cha- "rackter zu entdecken, und sie auf eine solche "Art zu zeigen wissen, welche die Vorsehung "von aller Ungerechtigkeit bei seinem Leiden "lossprechen wird. Denn wie Horaz bemer- "ket, (**) so ist der beste Mensch fehlerhaft, ob- "gleich nicht in einem so hohen Grade, wie die- "jenigen, die wir überhaupt Lasterhafte "nennen." "Wenn eine solche Poetische Gerechtig- "keine (*) Dieselbe Warnung giebt uns der gesegnete Heiland bei dem Unglück der 18. Personen, die durch den Fall des Thurms zu Siloa er- schlagen wurden. Luc. XIII. 4. (**) Vitiis nemo sine nascitur: optimus ille,
Qui minimis vrgetur. „ſtellet wird. Ein ſolches Beiſpiel bringt den „Stolz der menſchlichen Natur zu rechte; es „erweichet das Gemuͤth des Zuſchauers mit Er- „barmen und Mitleiden; es ſtaͤrket ihn in ſeinen „eignen Drangſalen, und lehret ihn, daß man „die Tugend der Menſchen nicht nach ihrem „Gluͤck abzumeſſen habe. (*) Jch kann mich „in dem ganzen Alterthum auf keinen Helden „beſinnen, der ſo weit uͤber die menſchlichen „Schwachheiten erhaben waͤre, daß man ihn „nicht in einer Tragoedie ſehr warſcheinlich in „Ungluͤck und Elend koͤnnte fallen laſſen. Der „Dichter wird noch immer eine herrſchende Lei- „denſchaft oder Unbeſonnenheit in ſeinem Cha- „rackter zu entdecken, und ſie auf eine ſolche „Art zu zeigen wiſſen, welche die Vorſehung „von aller Ungerechtigkeit bei ſeinem Leiden „losſprechen wird. Denn wie Horaz bemer- „ket, (**) ſo iſt der beſte Menſch fehlerhaft, ob- „gleich nicht in einem ſo hohen Grade, wie die- „jenigen, die wir uͤberhaupt Laſterhafte „nennen.” ”Wenn eine ſolche Poetiſche Gerechtig- „keine (*) Dieſelbe Warnung giebt uns der geſegnete Heiland bei dem Ungluͤck der 18. Perſonen, die durch den Fall des Thurms zu Siloa er- ſchlagen wurden. Luc. XIII. 4. (**) Vitiis nemo ſine naſcitur: optimus ille,
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„ſtellet wird. Ein ſolches Beiſpiel bringt den
„Stolz der menſchlichen Natur zu rechte; es
„erweichet das Gemuͤth des Zuſchauers mit Er-
„barmen und Mitleiden; es ſtaͤrket ihn in ſeinen
„eignen Drangſalen, und lehret ihn, daß man
„die Tugend der Menſchen nicht nach ihrem
„Gluͤck abzumeſſen habe. (*) Jch kann mich
„in dem ganzen Alterthum auf keinen Helden
„beſinnen, der ſo weit uͤber die menſchlichen
„Schwachheiten erhaben waͤre, daß man ihn
„nicht in einer Tragoedie ſehr warſcheinlich in
„Ungluͤck und Elend koͤnnte fallen laſſen. Der
„Dichter wird noch immer eine herrſchende Lei-
„denſchaft oder Unbeſonnenheit in ſeinem Cha-
„rackter zu entdecken, und ſie auf eine ſolche
„Art zu zeigen wiſſen, welche die Vorſehung
„von aller Ungerechtigkeit bei ſeinem Leiden
„losſprechen wird. Denn wie Horaz bemer-
„ket, (**) ſo iſt der beſte Menſch fehlerhaft, ob-
„gleich nicht in einem ſo hohen Grade, wie die-
„jenigen, die wir uͤberhaupt Laſterhafte
„nennen.”
”Wenn eine ſolche Poetiſche Gerechtig-
„keit, als einige Herren durchaus fordern, in
„dieſer Kunſt beobachtet werden muß, ſo iſt
„keine
(*) Dieſelbe Warnung giebt uns der geſegnete
Heiland bei dem Ungluͤck der 18. Perſonen,
die durch den Fall des Thurms zu Siloa er-
ſchlagen wurden. Luc. XIII. 4.
(**) Vitiis nemo ſine naſcitur: optimus ille,
Qui minimis vrgetur.
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