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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Die Arabeske.
uns nämlich, das es Rebranken sind, die sich da nach dem altgriechi-
schen Schema der dekorativen Wellenranke über die Fläche des Cy-
linders verzweigen. Betrachten wir aber die Blätter: ihre Form ver-
stösst zwar nicht augenfällig gegen das Aussehen von realen Wein-
blättern, aber ein Botaniker wird sie als Kopien nach der Natur ge-
wiss sehr mangelhaft finden. "Diese Weinblätter sind nicht streng nach
der Natur facsimilirt", wird er sagen, "sondern der Künstler hat in ihre
Zeichnung etwas aus seiner Phantasie hineinfliessen lassen." Und was
die Phantasie des Künstlers in diesem Falle erfüllt hat, kann für uns
keinen Augenblick zweifelhaft sein: es ist wiederum das Akanthus-
ornament mit seinen lappigen Ausladungen und den tiefen "pfeifen"-
artigen Einziehungen dazwischen, das der Stilisirung dieser "Weinblätter"
zu Grunde liegt. Immerhin bezeichnet eine so weitgehende Annäherung
an die natürliche Erscheinung, wie sie insbesondere das Einstreuen von
Träubchen beweist, eine Ausnahme, für deren Erklärung sich aller-
dings schwerwiegende Gründe geltend machen lassen: vor Allem die
gegenständliche und symbolische Bedeutung, die mit dem Weine und
was damit zusammenhängt seit frühester historischer Zeit verknüpft
worden ist, gewiss aber auch die augenfällige Verwandtschaft, die
zwischen der ornamentalen Ranke und der Rebranke obwaltet. Wir
finden daher die Weinranke nach dem Schema der fortlaufenden
Wellenranke bereits auf verhältnissmässig so frühen Beispielen, wie
der sogen. Alexandersarkophag von Sidon (publ. bei Hamdy Bey, Ne-
cropole de Sidon). Dass auch in diesem Falle das Akanthusornament
für die Stilisirung des Weinlaubs vorbildlich gewesen ist, beweisen die
"Pfeifen", doch sind hier überaus bezeichnendermaassen die Konturen
der Weinblätter entsprechend dem griechischen Akanthus (Fig. 111)
spitz ausgezackt, zum Unterschiede von der weichen und lappigen
Bildung an dem römischen Beispiel Fig. 178.

Wenden wir uns wieder zurück zu Fig. 177. Die einzelnen aus
dem Akanthuselement gestalteten Blätter sind nach Bedürfniss in die
Länge und Breite gezogen; von all' diesen Projektionen interessirt
uns bloss eine: es sind dies die zusammengefalteten abwärts hängenden
Blätter, die mit ihren auswärts gekrümmten Spitzenden bloss längs einer
Ranke aufgelegt zu werden brauchen, um als Akanthushalbblätter gelten
zu können. Dieses krautartig zusammengefaltete Akanthusblatt ist es
nämlich, das in die spätrömische Antike und mit dieser in das Mittel-
alter übergegangen ist, und das Element zur Zusammensetzung neuer
bedeutsamer Blüthenmotive gebildet hat.


Die Arabeske.
uns nämlich, das es Rebranken sind, die sich da nach dem altgriechi-
schen Schema der dekorativen Wellenranke über die Fläche des Cy-
linders verzweigen. Betrachten wir aber die Blätter: ihre Form ver-
stösst zwar nicht augenfällig gegen das Aussehen von realen Wein-
blättern, aber ein Botaniker wird sie als Kopien nach der Natur ge-
wiss sehr mangelhaft finden. „Diese Weinblätter sind nicht streng nach
der Natur facsimilirt“, wird er sagen, „sondern der Künstler hat in ihre
Zeichnung etwas aus seiner Phantasie hineinfliessen lassen.“ Und was
die Phantasie des Künstlers in diesem Falle erfüllt hat, kann für uns
keinen Augenblick zweifelhaft sein: es ist wiederum das Akanthus-
ornament mit seinen lappigen Ausladungen und den tiefen „pfeifen“-
artigen Einziehungen dazwischen, das der Stilisirung dieser „Weinblätter“
zu Grunde liegt. Immerhin bezeichnet eine so weitgehende Annäherung
an die natürliche Erscheinung, wie sie insbesondere das Einstreuen von
Träubchen beweist, eine Ausnahme, für deren Erklärung sich aller-
dings schwerwiegende Gründe geltend machen lassen: vor Allem die
gegenständliche und symbolische Bedeutung, die mit dem Weine und
was damit zusammenhängt seit frühester historischer Zeit verknüpft
worden ist, gewiss aber auch die augenfällige Verwandtschaft, die
zwischen der ornamentalen Ranke und der Rebranke obwaltet. Wir
finden daher die Weinranke nach dem Schema der fortlaufenden
Wellenranke bereits auf verhältnissmässig so frühen Beispielen, wie
der sogen. Alexandersarkophag von Sidon (publ. bei Hamdy Bey, Né-
cropole de Sidon). Dass auch in diesem Falle das Akanthusornament
für die Stilisirung des Weinlaubs vorbildlich gewesen ist, beweisen die
„Pfeifen“, doch sind hier überaus bezeichnendermaassen die Konturen
der Weinblätter entsprechend dem griechischen Akanthus (Fig. 111)
spitz ausgezackt, zum Unterschiede von der weichen und lappigen
Bildung an dem römischen Beispiel Fig. 178.

Wenden wir uns wieder zurück zu Fig. 177. Die einzelnen aus
dem Akanthuselement gestalteten Blätter sind nach Bedürfniss in die
Länge und Breite gezogen; von all’ diesen Projektionen interessirt
uns bloss eine: es sind dies die zusammengefalteten abwärts hängenden
Blätter, die mit ihren auswärts gekrümmten Spitzenden bloss längs einer
Ranke aufgelegt zu werden brauchen, um als Akanthushalbblätter gelten
zu können. Dieses krautartig zusammengefaltete Akanthusblatt ist es
nämlich, das in die spätrömische Antike und mit dieser in das Mittel-
alter übergegangen ist, und das Element zur Zusammensetzung neuer
bedeutsamer Blüthenmotive gebildet hat.


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[324/0350] Die Arabeske. uns nämlich, das es Rebranken sind, die sich da nach dem altgriechi- schen Schema der dekorativen Wellenranke über die Fläche des Cy- linders verzweigen. Betrachten wir aber die Blätter: ihre Form ver- stösst zwar nicht augenfällig gegen das Aussehen von realen Wein- blättern, aber ein Botaniker wird sie als Kopien nach der Natur ge- wiss sehr mangelhaft finden. „Diese Weinblätter sind nicht streng nach der Natur facsimilirt“, wird er sagen, „sondern der Künstler hat in ihre Zeichnung etwas aus seiner Phantasie hineinfliessen lassen.“ Und was die Phantasie des Künstlers in diesem Falle erfüllt hat, kann für uns keinen Augenblick zweifelhaft sein: es ist wiederum das Akanthus- ornament mit seinen lappigen Ausladungen und den tiefen „pfeifen“- artigen Einziehungen dazwischen, das der Stilisirung dieser „Weinblätter“ zu Grunde liegt. Immerhin bezeichnet eine so weitgehende Annäherung an die natürliche Erscheinung, wie sie insbesondere das Einstreuen von Träubchen beweist, eine Ausnahme, für deren Erklärung sich aller- dings schwerwiegende Gründe geltend machen lassen: vor Allem die gegenständliche und symbolische Bedeutung, die mit dem Weine und was damit zusammenhängt seit frühester historischer Zeit verknüpft worden ist, gewiss aber auch die augenfällige Verwandtschaft, die zwischen der ornamentalen Ranke und der Rebranke obwaltet. Wir finden daher die Weinranke nach dem Schema der fortlaufenden Wellenranke bereits auf verhältnissmässig so frühen Beispielen, wie der sogen. Alexandersarkophag von Sidon (publ. bei Hamdy Bey, Né- cropole de Sidon). Dass auch in diesem Falle das Akanthusornament für die Stilisirung des Weinlaubs vorbildlich gewesen ist, beweisen die „Pfeifen“, doch sind hier überaus bezeichnendermaassen die Konturen der Weinblätter entsprechend dem griechischen Akanthus (Fig. 111) spitz ausgezackt, zum Unterschiede von der weichen und lappigen Bildung an dem römischen Beispiel Fig. 178. Wenden wir uns wieder zurück zu Fig. 177. Die einzelnen aus dem Akanthuselement gestalteten Blätter sind nach Bedürfniss in die Länge und Breite gezogen; von all’ diesen Projektionen interessirt uns bloss eine: es sind dies die zusammengefalteten abwärts hängenden Blätter, die mit ihren auswärts gekrümmten Spitzenden bloss längs einer Ranke aufgelegt zu werden brauchen, um als Akanthushalbblätter gelten zu können. Dieses krautartig zusammengefaltete Akanthusblatt ist es nämlich, das in die spätrömische Antike und mit dieser in das Mittel- alter übergegangen ist, und das Element zur Zusammensetzung neuer bedeutsamer Blüthenmotive gebildet hat.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/350>, abgerufen am 04.12.2024.