Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

Bild:
<< vorherige Seite

erhoben12). Die Haltung des Mädchens schien ihm für Polyxena
zu ruhig; in dem Augenblick, wo ihr Vater getötet wird, müsste
sie lebhafter ihren Schmerz ausdrücken; aus diesem Grunde wird
angenommen, dass die Namen von dem Vasenmaler irrtümlich
beigeschrieben, und die Figuren vielmehr Menelaos und Helena
zu benennen seien. Indessen, soweit es ihm physisch möglich ist,
da der Krieger seine rechte Hand gefasst hat und es gewaltsam
mit sich fortzieht, äussert das Mädchen die innere Bewegung in
sehr deutlicher Weise; es hemmt den Schritt, den Kopf wendet
es zurück zu seinem Vater und blickt ihn mit weitgeöffnetem
starrem Auge entsetzt an -- man vergleiche nur die Augen-
bildung der übrigen Frauen, um sich der von Brygos hier beab-
sichtigten Wirkung zu vergewissern. Freilich schlägt es sich
nicht mit der Hand an den Kopf, und gerade auf das Fehlen
dieser typischen Trauergeberde reduciert sich schliesslich der
Vorwurf der Teilnahmlosigkeit; aber spricht sich denn in den
krampfhaft gebogenen, fast möchte man sagen zuckenden Fingern
der linken Hand der tiefe innere Schmerz nicht deutlich genug
aus? So haben wir also glücklicher Weise nicht nötig zu der
doch immer sehr bedenklichen Annahme verkehrter Namensbei-
schriften unsere Zuflucht zu nehmen13). Für Helena dürfte
überdiess der mädchenhafte Charakter der ganzen Gestalt
schwerlich passen.

Die Darstellung auf der anderen Seite derselben Schale,
von welcher die Abbildung auf S. 64 wenigstens eine allgemeine
Vorstellung geben wird, hat zu sehr verschiedenen Deutungen
Veranlassung gegeben.

Unverkennbar und allgemein zugegeben ist zunächst, dass
wir es auch hier mit Scenen der Iliupersis zu thun haben, aber,
wie gleich hinzugesetzt werden muss, keine dieser Scenen deckt
sich mit einer der oben aufgezählten fünf Darstellungen,
die aus der älteren bildlichen Tradition stammen. Dies führt

12) Troische Miscellen in den Sitzungsber. d. königl. bayer. Akad. d.
Wissenschaften 1868 S. 90 f.
13) Vgl. Kapitel III Auswahl und Zusammenstellung der Scenen S. 101.

erhoben12). Die Haltung des Mädchens schien ihm für Polyxena
zu ruhig; in dem Augenblick, wo ihr Vater getötet wird, müſste
sie lebhafter ihren Schmerz ausdrücken; aus diesem Grunde wird
angenommen, daſs die Namen von dem Vasenmaler irrtümlich
beigeschrieben, und die Figuren vielmehr Menelaos und Helena
zu benennen seien. Indessen, soweit es ihm physisch möglich ist,
da der Krieger seine rechte Hand gefaſst hat und es gewaltsam
mit sich fortzieht, äuſsert das Mädchen die innere Bewegung in
sehr deutlicher Weise; es hemmt den Schritt, den Kopf wendet
es zurück zu seinem Vater und blickt ihn mit weitgeöffnetem
starrem Auge entsetzt an — man vergleiche nur die Augen-
bildung der übrigen Frauen, um sich der von Brygos hier beab-
sichtigten Wirkung zu vergewissern. Freilich schlägt es sich
nicht mit der Hand an den Kopf, und gerade auf das Fehlen
dieser typischen Trauergeberde reduciert sich schlieſslich der
Vorwurf der Teilnahmlosigkeit; aber spricht sich denn in den
krampfhaft gebogenen, fast möchte man sagen zuckenden Fingern
der linken Hand der tiefe innere Schmerz nicht deutlich genug
aus? So haben wir also glücklicher Weise nicht nötig zu der
doch immer sehr bedenklichen Annahme verkehrter Namensbei-
schriften unsere Zuflucht zu nehmen13). Für Helena dürfte
überdieſs der mädchenhafte Charakter der ganzen Gestalt
schwerlich passen.

Die Darstellung auf der anderen Seite derselben Schale,
von welcher die Abbildung auf S. 64 wenigstens eine allgemeine
Vorstellung geben wird, hat zu sehr verschiedenen Deutungen
Veranlassung gegeben.

Unverkennbar und allgemein zugegeben ist zunächst, daſs
wir es auch hier mit Scenen der Iliupersis zu thun haben, aber,
wie gleich hinzugesetzt werden muſs, keine dieser Scenen deckt
sich mit einer der oben aufgezählten fünf Darstellungen,
die aus der älteren bildlichen Tradition stammen. Dies führt

12) Troische Miscellen in den Sitzungsber. d. königl. bayer. Akad. d.
Wissenschaften 1868 S. 90 f.
13) Vgl. Kapitel III Auswahl und Zusammenstellung der Scenen S. 101.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0076" n="62"/>
erhoben<note place="foot" n="12)">Troische Miscellen in den Sitzungsber. d. königl. bayer. Akad. d.<lb/>
Wissenschaften 1868 S. 90 f.</note>. Die Haltung des Mädchens schien ihm für Polyxena<lb/>
zu ruhig; in dem Augenblick, wo ihr Vater getötet wird, mü&#x017F;ste<lb/>
sie lebhafter ihren Schmerz ausdrücken; aus diesem Grunde wird<lb/>
angenommen, da&#x017F;s die Namen von dem Vasenmaler irrtümlich<lb/>
beigeschrieben, und die Figuren vielmehr Menelaos und Helena<lb/>
zu benennen seien. Indessen, soweit es ihm physisch möglich ist,<lb/>
da der Krieger seine rechte Hand gefa&#x017F;st hat und es gewaltsam<lb/>
mit sich fortzieht, äu&#x017F;sert das Mädchen die innere Bewegung in<lb/>
sehr deutlicher Weise; es hemmt den Schritt, den Kopf wendet<lb/>
es zurück zu seinem Vater und blickt ihn mit weitgeöffnetem<lb/>
starrem Auge entsetzt an &#x2014; man vergleiche nur die Augen-<lb/>
bildung der übrigen Frauen, um sich der von Brygos hier beab-<lb/>
sichtigten Wirkung zu vergewissern. Freilich schlägt es sich<lb/>
nicht mit der Hand an den Kopf, und gerade auf das Fehlen<lb/>
dieser typischen Trauergeberde reduciert sich schlie&#x017F;slich der<lb/>
Vorwurf der Teilnahmlosigkeit; aber spricht sich denn in den<lb/>
krampfhaft gebogenen, fast möchte man sagen zuckenden Fingern<lb/>
der linken Hand der tiefe innere Schmerz nicht deutlich genug<lb/>
aus? So haben wir also glücklicher Weise nicht nötig zu der<lb/>
doch immer sehr bedenklichen Annahme verkehrter Namensbei-<lb/>
schriften unsere Zuflucht zu nehmen<note place="foot" n="13)">Vgl. Kapitel III Auswahl und Zusammenstellung der Scenen S. 101.</note>. Für Helena dürfte<lb/>
überdie&#x017F;s der mädchenhafte Charakter der ganzen Gestalt<lb/>
schwerlich passen.</p><lb/>
          <p>Die Darstellung auf der anderen Seite derselben Schale,<lb/>
von welcher die Abbildung auf S. 64 wenigstens eine allgemeine<lb/>
Vorstellung geben wird, hat zu sehr verschiedenen Deutungen<lb/>
Veranlassung gegeben.</p><lb/>
          <p>Unverkennbar und allgemein zugegeben ist zunächst, da&#x017F;s<lb/>
wir es auch hier mit Scenen der Iliupersis zu thun haben, aber,<lb/>
wie gleich hinzugesetzt werden mu&#x017F;s, keine dieser Scenen deckt<lb/>
sich mit einer der oben aufgezählten fünf Darstellungen,<lb/>
die aus der älteren bildlichen Tradition stammen. Dies führt<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0076] erhoben 12). Die Haltung des Mädchens schien ihm für Polyxena zu ruhig; in dem Augenblick, wo ihr Vater getötet wird, müſste sie lebhafter ihren Schmerz ausdrücken; aus diesem Grunde wird angenommen, daſs die Namen von dem Vasenmaler irrtümlich beigeschrieben, und die Figuren vielmehr Menelaos und Helena zu benennen seien. Indessen, soweit es ihm physisch möglich ist, da der Krieger seine rechte Hand gefaſst hat und es gewaltsam mit sich fortzieht, äuſsert das Mädchen die innere Bewegung in sehr deutlicher Weise; es hemmt den Schritt, den Kopf wendet es zurück zu seinem Vater und blickt ihn mit weitgeöffnetem starrem Auge entsetzt an — man vergleiche nur die Augen- bildung der übrigen Frauen, um sich der von Brygos hier beab- sichtigten Wirkung zu vergewissern. Freilich schlägt es sich nicht mit der Hand an den Kopf, und gerade auf das Fehlen dieser typischen Trauergeberde reduciert sich schlieſslich der Vorwurf der Teilnahmlosigkeit; aber spricht sich denn in den krampfhaft gebogenen, fast möchte man sagen zuckenden Fingern der linken Hand der tiefe innere Schmerz nicht deutlich genug aus? So haben wir also glücklicher Weise nicht nötig zu der doch immer sehr bedenklichen Annahme verkehrter Namensbei- schriften unsere Zuflucht zu nehmen 13). Für Helena dürfte überdieſs der mädchenhafte Charakter der ganzen Gestalt schwerlich passen. Die Darstellung auf der anderen Seite derselben Schale, von welcher die Abbildung auf S. 64 wenigstens eine allgemeine Vorstellung geben wird, hat zu sehr verschiedenen Deutungen Veranlassung gegeben. Unverkennbar und allgemein zugegeben ist zunächst, daſs wir es auch hier mit Scenen der Iliupersis zu thun haben, aber, wie gleich hinzugesetzt werden muſs, keine dieser Scenen deckt sich mit einer der oben aufgezählten fünf Darstellungen, die aus der älteren bildlichen Tradition stammen. Dies führt 12) Troische Miscellen in den Sitzungsber. d. königl. bayer. Akad. d. Wissenschaften 1868 S. 90 f. 13) Vgl. Kapitel III Auswahl und Zusammenstellung der Scenen S. 101.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/76
Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/76>, abgerufen am 21.11.2024.