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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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dieser Scene, welche sich auf die eigentliche Wegführung beziehen,
lässt der Maler der Vivenziovase den einen Theseiden die Aithra
am Arm fassen, um ihr beim Aufstehen zu helfen, während der
Bruder ruhig dabei steht. Rechts erscheint noch eine traurig
sitzende Frau, die in Haltung und Erscheinung der Aithra so
gleich ist, dass Schorn vollkommen Recht hat, wenn er deren
Mitsklavin Klymene in ihr erkennt; bekannt ist ja dass bei der
Teichoskopie Helena erscheint G 144

ouk oie, ama te ge kai amphipoloi du eponto,
Aithre Pittheos thugater Klumene te boopis.

Von diesem Endpunkt der Komposition geht übrigens die ganze
Bewegung aus; von hier, wo durch die Sklavinnen der Helena
das Frauengemach deutlich bezeichnet ist, hat sich Helena zum
Palladium geflüchtet, von hier hat Neoptolemos den Astyanax
geraubt, von hier stürzt Andromache dem Räuber ihres Knaben
nach. Durch diese in die verschiedenen Scenen eingemischten,
aber alle von einem Punkte ausgegangenen Personen ist es nicht
am wenigsten gelungen, die ursprünglich getrennten Scenen zu
einer organischen Einheit zu verbinden24).

Es bedarf nun kaum des besonderen Beweises, dass es bei
solchen grossen, aus einzelnen Typen gleichsam zusammenge-
wachsenen Kompositionen mit der Frage nach den mittelbaren
oder unmittelbaren poetischen Quellen seine ganz eigene Be-
wandnis hat. Es kann sein, dass die Version so, wie wir sie
aus dem Bilde uns rekonstruieren würden, überhaupt bei keinem
Dichter vorlag; ja eine genaue Überstimmung einer auf solchem
Wege entstandenen Komposition mit einem Gedicht würde, wenn
sie vorhanden wäre, für zufällig zu halten sein, da eben hier
noch ganz andere, rein künstlerische Faktoren in Betracht
kommen. Es ist daher methodisch falsch, zu fragen, welche

24) In ganz ähnlichem Sinne ist auf dem Bologneser Krater (M. d. I.
X Tav. LIV, vgl. Brizio A. d. I. 1878 p. 61), die Flucht der Helena mit
der Auffindung der Aithra, ihrer Dienerin, durch die Theseiden zusammen-
gestellt; auch auf der tabula iliaca finden sich beide Scenen unmittelbar
unter einander.

dieser Scene, welche sich auf die eigentliche Wegführung beziehen,
läſst der Maler der Vivenziovase den einen Theseiden die Aithra
am Arm fassen, um ihr beim Aufstehen zu helfen, während der
Bruder ruhig dabei steht. Rechts erscheint noch eine traurig
sitzende Frau, die in Haltung und Erscheinung der Aithra so
gleich ist, daſs Schorn vollkommen Recht hat, wenn er deren
Mitsklavin Klymene in ihr erkennt; bekannt ist ja daſs bei der
Teichoskopie Helena erscheint Γ 144

οὐκ οἴη, ἅμα τῇ γε καὶ ἀμφίπολοι δύ̕ ἕποντο,
Αἴϑρη Πιτϑῆος ϑυγάτηρ Κλυμένη τε βοῶπις.

Von diesem Endpunkt der Komposition geht übrigens die ganze
Bewegung aus; von hier, wo durch die Sklavinnen der Helena
das Frauengemach deutlich bezeichnet ist, hat sich Helena zum
Palladium geflüchtet, von hier hat Neoptolemos den Astyanax
geraubt, von hier stürzt Andromache dem Räuber ihres Knaben
nach. Durch diese in die verschiedenen Scenen eingemischten,
aber alle von einem Punkte ausgegangenen Personen ist es nicht
am wenigsten gelungen, die ursprünglich getrennten Scenen zu
einer organischen Einheit zu verbinden24).

Es bedarf nun kaum des besonderen Beweises, daſs es bei
solchen groſsen, aus einzelnen Typen gleichsam zusammenge-
wachsenen Kompositionen mit der Frage nach den mittelbaren
oder unmittelbaren poetischen Quellen seine ganz eigene Be-
wandnis hat. Es kann sein, daſs die Version so, wie wir sie
aus dem Bilde uns rekonstruieren würden, überhaupt bei keinem
Dichter vorlag; ja eine genaue Überstimmung einer auf solchem
Wege entstandenen Komposition mit einem Gedicht würde, wenn
sie vorhanden wäre, für zufällig zu halten sein, da eben hier
noch ganz andere, rein künstlerische Faktoren in Betracht
kommen. Es ist daher methodisch falsch, zu fragen, welche

24) In ganz ähnlichem Sinne ist auf dem Bologneser Krater (M. d. I.
X Tav. LIV, vgl. Brizio A. d. I. 1878 p. 61), die Flucht der Helena mit
der Auffindung der Aithra, ihrer Dienerin, durch die Theseiden zusammen-
gestellt; auch auf der tabula iliaca finden sich beide Scenen unmittelbar
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[73/0087] dieser Scene, welche sich auf die eigentliche Wegführung beziehen, läſst der Maler der Vivenziovase den einen Theseiden die Aithra am Arm fassen, um ihr beim Aufstehen zu helfen, während der Bruder ruhig dabei steht. Rechts erscheint noch eine traurig sitzende Frau, die in Haltung und Erscheinung der Aithra so gleich ist, daſs Schorn vollkommen Recht hat, wenn er deren Mitsklavin Klymene in ihr erkennt; bekannt ist ja daſs bei der Teichoskopie Helena erscheint Γ 144 οὐκ οἴη, ἅμα τῇ γε καὶ ἀμφίπολοι δύ̕ ἕποντο, Αἴϑρη Πιτϑῆος ϑυγάτηρ Κλυμένη τε βοῶπις. Von diesem Endpunkt der Komposition geht übrigens die ganze Bewegung aus; von hier, wo durch die Sklavinnen der Helena das Frauengemach deutlich bezeichnet ist, hat sich Helena zum Palladium geflüchtet, von hier hat Neoptolemos den Astyanax geraubt, von hier stürzt Andromache dem Räuber ihres Knaben nach. Durch diese in die verschiedenen Scenen eingemischten, aber alle von einem Punkte ausgegangenen Personen ist es nicht am wenigsten gelungen, die ursprünglich getrennten Scenen zu einer organischen Einheit zu verbinden 24). Es bedarf nun kaum des besonderen Beweises, daſs es bei solchen groſsen, aus einzelnen Typen gleichsam zusammenge- wachsenen Kompositionen mit der Frage nach den mittelbaren oder unmittelbaren poetischen Quellen seine ganz eigene Be- wandnis hat. Es kann sein, daſs die Version so, wie wir sie aus dem Bilde uns rekonstruieren würden, überhaupt bei keinem Dichter vorlag; ja eine genaue Überstimmung einer auf solchem Wege entstandenen Komposition mit einem Gedicht würde, wenn sie vorhanden wäre, für zufällig zu halten sein, da eben hier noch ganz andere, rein künstlerische Faktoren in Betracht kommen. Es ist daher methodisch falsch, zu fragen, welche 24) In ganz ähnlichem Sinne ist auf dem Bologneser Krater (M. d. I. X Tav. LIV, vgl. Brizio A. d. I. 1878 p. 61), die Flucht der Helena mit der Auffindung der Aithra, ihrer Dienerin, durch die Theseiden zusammen- gestellt; auch auf der tabula iliaca finden sich beide Scenen unmittelbar unter einander.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/87>, abgerufen am 21.11.2024.