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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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der Glaube an höhlenhausende Unsterbliche und deren mantische
Kraft und Bethätigung lebendig war.

Denn das ist ja offenbar, dass der Cult des Amphiaraos
und der Glaube an seinen Aufenthalt in der Erdtiefe nicht
durch Einwirkung des Epos entstanden, sondern dass umgekehrt
die Erzählung des Epos durch den bereits vorher vorhandenen
Cult eines also vorgestellten dämonischen Wesens veranlasst
worden ist. Die epische Dichtung fand den lebendigen Cult
eines in der Erde hausenden mantischen Dämons bei Theben
vor. Sie macht sich diese Thatsache verständlich, indem sie
sie (und dies ist überhaupt vielfach das Verhältniss epischer
Dichtung zu den Thatsachen des religiösen Lebens) ableitet aus
einer Begebenheit der Sagengeschichte und so mit ihrem Vor-
stellungskreis in Verbindung bringt. Von Göttern, die so an
ein irdisches Local gebunden wären, weiss sie nichts; der im
Cultus Verehrte wurde ihrer Phantasie zum Helden und Seher,
der nicht von jeher in jener Erdtiefe hauste, sondern dorthin
erst versetzt worden ist durch einen wunderbaren Willensact
des höchsten Gottes, der dem Entrückten zugleich ewiges Leben
in der Tiefe verliehen hat 1).

Wir dürfen aus neuerer Sagenkunde ein Beispiel zur Er-
läuterung heranziehen. Unserer einheimischen Volkssage ist
die Vorstellung solcher, in Berghöhlen und unterirdischen Ge-
mächern ewig oder bis zum jüngsten Tage hausenden Helden
sehr geläufig. Karl der Grosse, oder auch Karl der Fünfte, sitzt
im Odenberg oder im Unterberg bei Salzburg, Friedrich II.
(in jüngerer Wendung der Sage Friedrich I. Rothbart) im Kyff-
häuser, Heinrich der Vogelsteller im Sudemerberg bei Goslar;

1) Wodurch die Dichtung veranlasst wurde, gerade den argivischen
(nach Paus. 2, 13, 7; vgl. Geopon. 2, 35 p. 182; schon bei Lebzeiten der
Incubationsmantik besonders kundigen) Seher Amphiaraos in dem böotischen
Höhlendämon wiederzuerkennen, oder den heroisirten Gott Amphiaraos zum
Argiver und Mitglied des, den böotischen Sehern sonst eher feindlichen
Sehergeschlechts des Melampus zu machen, nach Böotien als Landesfeind
gelangen zu lassen und dann im Inneren des feindlichen Landes für immer
anzusiedeln -- das bleibt freilich dunkel.
8*

der Glaube an höhlenhausende Unsterbliche und deren mantische
Kraft und Bethätigung lebendig war.

Denn das ist ja offenbar, dass der Cult des Amphiaraos
und der Glaube an seinen Aufenthalt in der Erdtiefe nicht
durch Einwirkung des Epos entstanden, sondern dass umgekehrt
die Erzählung des Epos durch den bereits vorher vorhandenen
Cult eines also vorgestellten dämonischen Wesens veranlasst
worden ist. Die epische Dichtung fand den lebendigen Cult
eines in der Erde hausenden mantischen Dämons bei Theben
vor. Sie macht sich diese Thatsache verständlich, indem sie
sie (und dies ist überhaupt vielfach das Verhältniss epischer
Dichtung zu den Thatsachen des religiösen Lebens) ableitet aus
einer Begebenheit der Sagengeschichte und so mit ihrem Vor-
stellungskreis in Verbindung bringt. Von Göttern, die so an
ein irdisches Local gebunden wären, weiss sie nichts; der im
Cultus Verehrte wurde ihrer Phantasie zum Helden und Seher,
der nicht von jeher in jener Erdtiefe hauste, sondern dorthin
erst versetzt worden ist durch einen wunderbaren Willensact
des höchsten Gottes, der dem Entrückten zugleich ewiges Leben
in der Tiefe verliehen hat 1).

Wir dürfen aus neuerer Sagenkunde ein Beispiel zur Er-
läuterung heranziehen. Unserer einheimischen Volkssage ist
die Vorstellung solcher, in Berghöhlen und unterirdischen Ge-
mächern ewig oder bis zum jüngsten Tage hausenden Helden
sehr geläufig. Karl der Grosse, oder auch Karl der Fünfte, sitzt
im Odenberg oder im Unterberg bei Salzburg, Friedrich II.
(in jüngerer Wendung der Sage Friedrich I. Rothbart) im Kyff-
häuser, Heinrich der Vogelsteller im Sudemerberg bei Goslar;

1) Wodurch die Dichtung veranlasst wurde, gerade den argivischen
(nach Paus. 2, 13, 7; vgl. Geopon. 2, 35 p. 182; schon bei Lebzeiten der
Incubationsmantik besonders kundigen) Seher Amphiaraos in dem böotischen
Höhlendämon wiederzuerkennen, oder den heroisirten Gott Amphiaraos zum
Argiver und Mitglied des, den böotischen Sehern sonst eher feindlichen
Sehergeschlechts des Melampus zu machen, nach Böotien als Landesfeind
gelangen zu lassen und dann im Inneren des feindlichen Landes für immer
anzusiedeln — das bleibt freilich dunkel.
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[115/0131] der Glaube an höhlenhausende Unsterbliche und deren mantische Kraft und Bethätigung lebendig war. Denn das ist ja offenbar, dass der Cult des Amphiaraos und der Glaube an seinen Aufenthalt in der Erdtiefe nicht durch Einwirkung des Epos entstanden, sondern dass umgekehrt die Erzählung des Epos durch den bereits vorher vorhandenen Cult eines also vorgestellten dämonischen Wesens veranlasst worden ist. Die epische Dichtung fand den lebendigen Cult eines in der Erde hausenden mantischen Dämons bei Theben vor. Sie macht sich diese Thatsache verständlich, indem sie sie (und dies ist überhaupt vielfach das Verhältniss epischer Dichtung zu den Thatsachen des religiösen Lebens) ableitet aus einer Begebenheit der Sagengeschichte und so mit ihrem Vor- stellungskreis in Verbindung bringt. Von Göttern, die so an ein irdisches Local gebunden wären, weiss sie nichts; der im Cultus Verehrte wurde ihrer Phantasie zum Helden und Seher, der nicht von jeher in jener Erdtiefe hauste, sondern dorthin erst versetzt worden ist durch einen wunderbaren Willensact des höchsten Gottes, der dem Entrückten zugleich ewiges Leben in der Tiefe verliehen hat 1). Wir dürfen aus neuerer Sagenkunde ein Beispiel zur Er- läuterung heranziehen. Unserer einheimischen Volkssage ist die Vorstellung solcher, in Berghöhlen und unterirdischen Ge- mächern ewig oder bis zum jüngsten Tage hausenden Helden sehr geläufig. Karl der Grosse, oder auch Karl der Fünfte, sitzt im Odenberg oder im Unterberg bei Salzburg, Friedrich II. (in jüngerer Wendung der Sage Friedrich I. Rothbart) im Kyff- häuser, Heinrich der Vogelsteller im Sudemerberg bei Goslar; 1) Wodurch die Dichtung veranlasst wurde, gerade den argivischen (nach Paus. 2, 13, 7; vgl. Geopon. 2, 35 p. 182; schon bei Lebzeiten der Incubationsmantik besonders kundigen) Seher Amphiaraos in dem böotischen Höhlendämon wiederzuerkennen, oder den heroisirten Gott Amphiaraos zum Argiver und Mitglied des, den böotischen Sehern sonst eher feindlichen Sehergeschlechts des Melampus zu machen, nach Böotien als Landesfeind gelangen zu lassen und dann im Inneren des feindlichen Landes für immer anzusiedeln — das bleibt freilich dunkel. 8*

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/131>, abgerufen am 21.11.2024.