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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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riethen, ein Gebiet der Erfahrung auf, von dem ihnen ihr Da-
sein im vollbesonnenen Tagesleben keine Kunde geben konnte.
Denn als Erfahrungen gegenständlichen Inhalts mussten sie
die Empfindungen und Gesichte, die ihnen in der "Ekstasis"
zu Theil geworden waren, auffassen 1). Wenn nun der Glaube
an das Dasein und Leben eines von dem Leibe zu unter-
scheidenden und von ihm abtrennbaren zweiten Ich der Men-
schen schon durch die "Erfahrungen" von dessen Sonderdasein
und selbständigem Handeln in Traum und Ohnmacht genährt
werden konnte 2), um wie viel mehr musste sich dieser Glaube
befestigen und erhöhen bei denjenigen, die in dem Rausch
jener Tanzorgien an sich selber "erfahren" hatten, wie die
Seele, frei vom Leibe, an den Wonnen und Schrecken des
Götterdaseins theilhaben könne, sie aber allein, die Seele, das
unsichtbar im Menschen lebende Geisterwesen, nicht der
ganze, aus Leib und Seele gebildete Mensch. Das Gefühl ihrer
Göttlichkeit, ihrer Ewigkeit, das in der Ekstasis sich blitzartig
ihr selbst offenbart hatte, musste der Seele sich bald zu der
bleibenden Ueberzeugung fortbilden, dass sie göttlicher Natur
sei, zu göttlichem Leben berufen, sobald der Leib sie freilasse,
wie damals auf kurze Zeit, so dereinst für immer. Welche
Vernunftgründe könnten stärker einen solchen Spiritualismus
befestigen als die eigenste Erfahrung, die schon hier einen

grossen Zahl der Theilnehmer an den bakchischen Feiern doch nur wenige
sich mit Recht mit dem Namen des Gottes selbst benennen, als durch
ihre ekstatische Erregung mit ihm eins geworden. Es war hierzu eine
eigene morbide Anlage erforderlich. Dieselbe, welche unter anderen Ver-
hältnissen zum ächten Schamanen, Piaje u. s. w. befähigt.
1) Selbst nach Aufhören der ekstasis scheinen dem Ekstatischen die ge-
habten Gesichte thatsächlichen Inhalt gehabt zu haben: oion sunebe Anti-
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mena kai os mnemoneuontes. Arist. p. mnemes p. 450 a, 8. -- "Zauberer, die
nachher zum Christenthum bekehrt wurden, waren gewöhnlich auch später
noch von der Wirklichkeit früherer Erscheinungen überzeugt, sie waren
ihnen als etwas Reales vorgekommen." Müller, Amerik. Urrel. 80. Zu
den dort gegebenen Beispielen vgl. noch Tylor, Primit. cult. 2, 120. Cranz,
Hist. von Grönl. 1, 272.
2) S. oben p. 6 ff.

riethen, ein Gebiet der Erfahrung auf, von dem ihnen ihr Da-
sein im vollbesonnenen Tagesleben keine Kunde geben konnte.
Denn als Erfahrungen gegenständlichen Inhalts mussten sie
die Empfindungen und Gesichte, die ihnen in der „Ekstasis“
zu Theil geworden waren, auffassen 1). Wenn nun der Glaube
an das Dasein und Leben eines von dem Leibe zu unter-
scheidenden und von ihm abtrennbaren zweiten Ich der Men-
schen schon durch die „Erfahrungen“ von dessen Sonderdasein
und selbständigem Handeln in Traum und Ohnmacht genährt
werden konnte 2), um wie viel mehr musste sich dieser Glaube
befestigen und erhöhen bei denjenigen, die in dem Rausch
jener Tanzorgien an sich selber „erfahren“ hatten, wie die
Seele, frei vom Leibe, an den Wonnen und Schrecken des
Götterdaseins theilhaben könne, sie aber allein, die Seele, das
unsichtbar im Menschen lebende Geisterwesen, nicht der
ganze, aus Leib und Seele gebildete Mensch. Das Gefühl ihrer
Göttlichkeit, ihrer Ewigkeit, das in der Ekstasis sich blitzartig
ihr selbst offenbart hatte, musste der Seele sich bald zu der
bleibenden Ueberzeugung fortbilden, dass sie göttlicher Natur
sei, zu göttlichem Leben berufen, sobald der Leib sie freilasse,
wie damals auf kurze Zeit, so dereinst für immer. Welche
Vernunftgründe könnten stärker einen solchen Spiritualismus
befestigen als die eigenste Erfahrung, die schon hier einen

grossen Zahl der Theilnehmer an den bakchischen Feiern doch nur wenige
sich mit Recht mit dem Namen des Gottes selbst benennen, als durch
ihre ekstatische Erregung mit ihm eins geworden. Es war hierzu eine
eigene morbide Anlage erforderlich. Dieselbe, welche unter anderen Ver-
hältnissen zum ächten Schamanen, Piaje u. s. w. befähigt.
1) Selbst nach Aufhören der ἔκστασις scheinen dem Ekstatischen die ge-
habten Gesichte thatsächlichen Inhalt gehabt zu haben: οἷον συνέβη Ἀντι-
φέροντι τῷ Ὠρείτῃ καὶ ἄλλοις ἐξισταμένοις. τὰ ϒὰρ φαντάσματα ἔλεϒον ὡς ϒενό-
μενα καὶ ὡς μνημονεύοντες. Arist. π. μνήμης p. 450 a, 8. — „Zauberer, die
nachher zum Christenthum bekehrt wurden, waren gewöhnlich auch später
noch von der Wirklichkeit früherer Erscheinungen überzeugt, sie waren
ihnen als etwas Reales vorgekommen.“ Müller, Amerik. Urrel. 80. Zu
den dort gegebenen Beispielen vgl. noch Tylor, Primit. cult. 2, 120. Cranz,
Hist. von Grönl. 1, 272.
2) S. oben p. 6 ff.
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[324/0340] riethen, ein Gebiet der Erfahrung auf, von dem ihnen ihr Da- sein im vollbesonnenen Tagesleben keine Kunde geben konnte. Denn als Erfahrungen gegenständlichen Inhalts mussten sie die Empfindungen und Gesichte, die ihnen in der „Ekstasis“ zu Theil geworden waren, auffassen 1). Wenn nun der Glaube an das Dasein und Leben eines von dem Leibe zu unter- scheidenden und von ihm abtrennbaren zweiten Ich der Men- schen schon durch die „Erfahrungen“ von dessen Sonderdasein und selbständigem Handeln in Traum und Ohnmacht genährt werden konnte 2), um wie viel mehr musste sich dieser Glaube befestigen und erhöhen bei denjenigen, die in dem Rausch jener Tanzorgien an sich selber „erfahren“ hatten, wie die Seele, frei vom Leibe, an den Wonnen und Schrecken des Götterdaseins theilhaben könne, sie aber allein, die Seele, das unsichtbar im Menschen lebende Geisterwesen, nicht der ganze, aus Leib und Seele gebildete Mensch. Das Gefühl ihrer Göttlichkeit, ihrer Ewigkeit, das in der Ekstasis sich blitzartig ihr selbst offenbart hatte, musste der Seele sich bald zu der bleibenden Ueberzeugung fortbilden, dass sie göttlicher Natur sei, zu göttlichem Leben berufen, sobald der Leib sie freilasse, wie damals auf kurze Zeit, so dereinst für immer. Welche Vernunftgründe könnten stärker einen solchen Spiritualismus befestigen als die eigenste Erfahrung, die schon hier einen 2) 1) Selbst nach Aufhören der ἔκστασις scheinen dem Ekstatischen die ge- habten Gesichte thatsächlichen Inhalt gehabt zu haben: οἷον συνέβη Ἀντι- φέροντι τῷ Ὠρείτῃ καὶ ἄλλοις ἐξισταμένοις. τὰ ϒὰρ φαντάσματα ἔλεϒον ὡς ϒενό- μενα καὶ ὡς μνημονεύοντες. Arist. π. μνήμης p. 450 a, 8. — „Zauberer, die nachher zum Christenthum bekehrt wurden, waren gewöhnlich auch später noch von der Wirklichkeit früherer Erscheinungen überzeugt, sie waren ihnen als etwas Reales vorgekommen.“ Müller, Amerik. Urrel. 80. Zu den dort gegebenen Beispielen vgl. noch Tylor, Primit. cult. 2, 120. Cranz, Hist. von Grönl. 1, 272. 2) S. oben p. 6 ff. 2) grossen Zahl der Theilnehmer an den bakchischen Feiern doch nur wenige sich mit Recht mit dem Namen des Gottes selbst benennen, als durch ihre ekstatische Erregung mit ihm eins geworden. Es war hierzu eine eigene morbide Anlage erforderlich. Dieselbe, welche unter anderen Ver- hältnissen zum ächten Schamanen, Piaje u. s. w. befähigt.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/340>, abgerufen am 25.11.2024.