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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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nächstliegenden Annahme auszuweichen, dass auch diese Vor-
stellung eine der Glaubenslehren war, die mit dem Dionysos-
cult die Orphiker aus Thrakien übernommen haben. Wie
andere Mystiker 1), so haben die orphischen Theologen den
Seelenwanderungsglauben aus populärer Ueberlieferung ange-
nommen und ihn dem Gebäude ihrer Lehre als ein dienen-
des Glied eingefügt 2). Er diente ihnen, um dem Gedanken
einer unauflöslichen Verkettung von Schuld und Busse, Be-
fleckung und läuternder Strafe, Frömmigkeit und seliger Zu-
kunft, an dem ihre ganze religiöse Moral hing, eindrucksvolle
sinnliche Gestaltung zu geben, wie sie zu gleichem Dienste
den altgriechischen Glauben an ein Seelenreich in der Tiefe
beibehielten und ausgestalteten.

Aber der Seelenwanderungsglaube behält hier nicht das
letzte Wort. Es giebt ein Reich der ewig freien göttlich leben-
digen Seelen, zu dem die Lebensläufe in irdischen Leibern nur
Durchgangsthore sind: zu ihm weist die Heilslehre orphischer
Mysterien, die Reinigung und Heiligung orphischer Askese den
Weg.


1) Brahmanen und Buddhisten, Manichäer u. s. w.
2) Eine feste Bezeichnung der "Seelenwanderung" scheint die orphi-
sche Lehre nicht dargeboten zu haben. Später nannte man sie (mit
einer eigentlich auf den Begriff nicht recht zutreffenden Benennung)
paliggenesia: dies scheint ihr ältester Name zu sein (ai psukhai palin
gignontai
ek ton tethneoton. Plat. Phaed. 70 C) und blieb ihr feier-
lichster. "Pythagoras" non metempsukhosin sed paliggenesian esse dicit: Serv.
Aen. 3, 68. metensomatosis (mehrfach bei Hippol. refut. haer. u. s. w.) ist
nicht ungewöhnlich; der uns geläufigste Ausdruck: metempsukhosis ist bei
Griechen gerade der am wenigsten übliche: er findet sich z. B. Diodor.
10, 6, 1; Galen IV 763 K; Tertullian de an. 31; Serv. Aen. 6, 532; 603;
Suid. s. Pherekudes. metempsukhousthai: Schol. Apoll. Rhod. 1, 645.

nächstliegenden Annahme auszuweichen, dass auch diese Vor-
stellung eine der Glaubenslehren war, die mit dem Dionysos-
cult die Orphiker aus Thrakien übernommen haben. Wie
andere Mystiker 1), so haben die orphischen Theologen den
Seelenwanderungsglauben aus populärer Ueberlieferung ange-
nommen und ihn dem Gebäude ihrer Lehre als ein dienen-
des Glied eingefügt 2). Er diente ihnen, um dem Gedanken
einer unauflöslichen Verkettung von Schuld und Busse, Be-
fleckung und läuternder Strafe, Frömmigkeit und seliger Zu-
kunft, an dem ihre ganze religiöse Moral hing, eindrucksvolle
sinnliche Gestaltung zu geben, wie sie zu gleichem Dienste
den altgriechischen Glauben an ein Seelenreich in der Tiefe
beibehielten und ausgestalteten.

Aber der Seelenwanderungsglaube behält hier nicht das
letzte Wort. Es giebt ein Reich der ewig freien göttlich leben-
digen Seelen, zu dem die Lebensläufe in irdischen Leibern nur
Durchgangsthore sind: zu ihm weist die Heilslehre orphischer
Mysterien, die Reinigung und Heiligung orphischer Askese den
Weg.


1) Brahmanen und Buddhisten, Manichäer u. s. w.
2) Eine feste Bezeichnung der „Seelenwanderung“ scheint die orphi-
sche Lehre nicht dargeboten zu haben. Später nannte man sie (mit
einer eigentlich auf den Begriff nicht recht zutreffenden Benennung)
παλιγγενεσία: dies scheint ihr ältester Name zu sein (αἱ ψυχαὶ πάλιν
γίγνονται
ἐκ τῶν τεϑνεώτων. Plat. Phaed. 70 C) und blieb ihr feier-
lichster. „Pythagoras“ non μετεμψύχωσιν sed παλιγγενεσίαν esse dicit: Serv.
Aen. 3, 68. μετενσωμάτωσις (mehrfach bei Hippol. refut. haer. u. s. w.) ist
nicht ungewöhnlich; der uns geläufigste Ausdruck: μετεμψύχωσις ist bei
Griechen gerade der am wenigsten übliche: er findet sich z. B. Diodor.
10, 6, 1; Galen IV 763 K; Tertullian de an. 31; Serv. Aen. 6, 532; 603;
Suid. s. Φερεκύδης. μετεμψυχοῦσϑαι: Schol. Apoll. Rhod. 1, 645.
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[428/0444] nächstliegenden Annahme auszuweichen, dass auch diese Vor- stellung eine der Glaubenslehren war, die mit dem Dionysos- cult die Orphiker aus Thrakien übernommen haben. Wie andere Mystiker 1), so haben die orphischen Theologen den Seelenwanderungsglauben aus populärer Ueberlieferung ange- nommen und ihn dem Gebäude ihrer Lehre als ein dienen- des Glied eingefügt 2). Er diente ihnen, um dem Gedanken einer unauflöslichen Verkettung von Schuld und Busse, Be- fleckung und läuternder Strafe, Frömmigkeit und seliger Zu- kunft, an dem ihre ganze religiöse Moral hing, eindrucksvolle sinnliche Gestaltung zu geben, wie sie zu gleichem Dienste den altgriechischen Glauben an ein Seelenreich in der Tiefe beibehielten und ausgestalteten. Aber der Seelenwanderungsglaube behält hier nicht das letzte Wort. Es giebt ein Reich der ewig freien göttlich leben- digen Seelen, zu dem die Lebensläufe in irdischen Leibern nur Durchgangsthore sind: zu ihm weist die Heilslehre orphischer Mysterien, die Reinigung und Heiligung orphischer Askese den Weg. 1) Brahmanen und Buddhisten, Manichäer u. s. w. 2) Eine feste Bezeichnung der „Seelenwanderung“ scheint die orphi- sche Lehre nicht dargeboten zu haben. Später nannte man sie (mit einer eigentlich auf den Begriff nicht recht zutreffenden Benennung) παλιγγενεσία: dies scheint ihr ältester Name zu sein (αἱ ψυχαὶ πάλιν γίγνονται ἐκ τῶν τεϑνεώτων. Plat. Phaed. 70 C) und blieb ihr feier- lichster. „Pythagoras“ non μετεμψύχωσιν sed παλιγγενεσίαν esse dicit: Serv. Aen. 3, 68. μετενσωμάτωσις (mehrfach bei Hippol. refut. haer. u. s. w.) ist nicht ungewöhnlich; der uns geläufigste Ausdruck: μετεμψύχωσις ist bei Griechen gerade der am wenigsten übliche: er findet sich z. B. Diodor. 10, 6, 1; Galen IV 763 K; Tertullian de an. 31; Serv. Aen. 6, 532; 603; Suid. s. Φερεκύδης. μετεμψυχοῦσϑαι: Schol. Apoll. Rhod. 1, 645.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/444>, abgerufen am 22.11.2024.