Einkleidung, zu rechtfertigen. Den neu erwachten religiösen Drang des Volkes hatte eine Rückwendung der Philosophie zu Plato und seiner in das Religiöse hinüberleitenden Weisheit begleitet. Platonismus war an einzelnen Stellen vielfach in die Lehren fremder Schulen eingedrungen, er hatte sich auch bereits eine eigene Stätte neu bereitetet in der Akademie, wo vorher eine unplatonische Skepsis die alten Dogmen ver- drängt hatte. Jetzt bricht, alles andere Weisheitsstreben über- wältigend, ein erneuerter Platonismus hervor, die Lehre des Aristoteles und Chrysipp, den er mit Plato versöhnen zu können meinte, aufsaugend, mit der eigenen Lehre verschlingend, und Alles zu einem subtil und weitläufig ausgesponnenen Gedanken- system verwebend. Diese neoplatonische Speculation, in der auch das müde Alter des Griechenthums noch viel Tiefsinn, Geist und Scharfblick (neben einer wuchernden Fülle von scholastischem Aberwitz) aufwandte, füllt die letzten Jahr- hunderte griechischen Gedankenlebens. Auch ihr Grundzug geht auf eine Abwendung vom natürlichen Leben, ein gewalt- sames Hinüberdrängen in eine jenseitige rein geistige Welt; eben hiemit that sie der Sehnsucht ihrer Zeit genug. Wie von dem, über alles Sein und Denken hinausliegenden, in schöpfe- rischen Ausstrahlungen dennoch unberührt und unvermindert sich ewig jenseits erhaltenden Einen und Ersten Urwesen sich, in ununterbrochener Kette, die Welten des Denkens und der in ihr enthaltenen Ideen und reinen Gedanken, des Seelischen, und des Materiellen entwickeln, dann aber wieder, im Zug der Sehnsucht 1), alles Gewordene sich zurückwendet zum Urquell des Seins: das zu schildern ist das in vielfachen Variationen immer gleiche Thema dieser Philosophie. In Beharren des Verursachten in seiner Ursache, Hervorgang aus ihr und Rück- wendung zu ihr vollzieht sich alles Geschehen im Spiel von
1) e orexis tou agathou eis en ontos agei kai epi touto speudei pasa phusis. Plotin. 22, 17 (Kirchh.) panta oregetai ekeinou kai ephietai autou phuseos anagke-os aneu autou ou dunatai einai. 29, 12; 45, 2. pothei de pan to gennesan (der nous das proton, die psukhe den nous): 10, 7.
Einkleidung, zu rechtfertigen. Den neu erwachten religiösen Drang des Volkes hatte eine Rückwendung der Philosophie zu Plato und seiner in das Religiöse hinüberleitenden Weisheit begleitet. Platonismus war an einzelnen Stellen vielfach in die Lehren fremder Schulen eingedrungen, er hatte sich auch bereits eine eigene Stätte neu bereitetet in der Akademie, wo vorher eine unplatonische Skepsis die alten Dogmen ver- drängt hatte. Jetzt bricht, alles andere Weisheitsstreben über- wältigend, ein erneuerter Platonismus hervor, die Lehre des Aristoteles und Chrysipp, den er mit Plato versöhnen zu können meinte, aufsaugend, mit der eigenen Lehre verschlingend, und Alles zu einem subtil und weitläufig ausgesponnenen Gedanken- system verwebend. Diese neoplatonische Speculation, in der auch das müde Alter des Griechenthums noch viel Tiefsinn, Geist und Scharfblick (neben einer wuchernden Fülle von scholastischem Aberwitz) aufwandte, füllt die letzten Jahr- hunderte griechischen Gedankenlebens. Auch ihr Grundzug geht auf eine Abwendung vom natürlichen Leben, ein gewalt- sames Hinüberdrängen in eine jenseitige rein geistige Welt; eben hiemit that sie der Sehnsucht ihrer Zeit genug. Wie von dem, über alles Sein und Denken hinausliegenden, in schöpfe- rischen Ausstrahlungen dennoch unberührt und unvermindert sich ewig jenseits erhaltenden Einen und Ersten Urwesen sich, in ununterbrochener Kette, die Welten des Denkens und der in ihr enthaltenen Ideen und reinen Gedanken, des Seelischen, und des Materiellen entwickeln, dann aber wieder, im Zug der Sehnsucht 1), alles Gewordene sich zurückwendet zum Urquell des Seins: das zu schildern ist das in vielfachen Variationen immer gleiche Thema dieser Philosophie. In Beharren des Verursachten in seiner Ursache, Hervorgang aus ihr und Rück- wendung zu ihr vollzieht sich alles Geschehen im Spiel von
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Einkleidung, zu rechtfertigen. Den neu erwachten religiösen
Drang des Volkes hatte eine Rückwendung der Philosophie zu
Plato und seiner in das Religiöse hinüberleitenden Weisheit
begleitet. Platonismus war an einzelnen Stellen vielfach in
die Lehren fremder Schulen eingedrungen, er hatte sich auch
bereits eine eigene Stätte neu bereitetet in der Akademie, wo
vorher eine unplatonische Skepsis die alten Dogmen ver-
drängt hatte. Jetzt bricht, alles andere Weisheitsstreben über-
wältigend, ein erneuerter Platonismus hervor, die Lehre des
Aristoteles und Chrysipp, den er mit Plato versöhnen zu können
meinte, aufsaugend, mit der eigenen Lehre verschlingend, und
Alles zu einem subtil und weitläufig ausgesponnenen Gedanken-
system verwebend. Diese neoplatonische Speculation, in der
auch das müde Alter des Griechenthums noch viel Tiefsinn,
Geist und Scharfblick (neben einer wuchernden Fülle von
scholastischem Aberwitz) aufwandte, füllt die letzten Jahr-
hunderte griechischen Gedankenlebens. Auch ihr Grundzug
geht auf eine Abwendung vom natürlichen Leben, ein gewalt-
sames Hinüberdrängen in eine jenseitige rein geistige Welt;
eben hiemit that sie der Sehnsucht ihrer Zeit genug. Wie von
dem, über alles Sein und Denken hinausliegenden, in schöpfe-
rischen Ausstrahlungen dennoch unberührt und unvermindert
sich ewig jenseits erhaltenden Einen und Ersten Urwesen sich,
in ununterbrochener Kette, die Welten des Denkens und der
in ihr enthaltenen Ideen und reinen Gedanken, des Seelischen,
und des Materiellen entwickeln, dann aber wieder, im Zug der
Sehnsucht 1), alles Gewordene sich zurückwendet zum Urquell
des Seins: das zu schildern ist das in vielfachen Variationen
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Verursachten in seiner Ursache, Hervorgang aus ihr und Rück-
wendung zu ihr vollzieht sich alles Geschehen im Spiel von
1) ἡ ὄρεξις τοῦ ἀγαϑοῦ εἰς ἕν ὄντως ἄγει καὶ ἐπὶ τοῦτο σπεύδει πᾶσα
φύσις. Plotin. 22, 17 (Kirchh.) πάντα ὀρέγεται ἐκείνου καὶ ἐφίεται αὐτοῦ
φύσεως ἀνάγκῃ-ὡς ἄνευ αὐτοῦ οὐ δύναται εἶναι. 29, 12; 45, 2. ποϑεῖ δὲ πᾶν
τὸ γεννῆσαν (der νοῦς das πρῶτον, die ψυχὴ den νοῦς): 10, 7.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 688. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/704>, abgerufen am 21.11.2024.
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