Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin, 1728.I. Theil. VI. Capitul. wegen doch nicht den mercklichen Unterscheid, dersich zwischen ihnen und jenen findet, und insonder- heit in Betrachtung gezogen werden solte. Man- cher junger Mensch, dem wegen seiner schlechten Auferziehung, die er erfahren, die Hof-Manieren unbekandt, sperrt Maul und Augen auf, wenn er nach Hofe kömmt; So bald er nun einen erblickt, der entweder von dem andern vor sehr manierlich geachtet wird, oder dessen Thun und Wesen ihm nach seiner eigenen Wahl am besten anstehet, so will er ihn gleich in allen Tritten und Schritten, Worten und Geberden nachahmen, macht sich aber durch diese gezwungene Nachahmung noch weit lä- cherlicher als zuvor. Was bey jenem wegen sei- ner Taille, Geberden, natürlichen Beschaffenheit des Leibes, auch wohl wegen seines Characters und anderer moralischen Umstände ein Wohlstand, ist hingegen bey diesem der gröste Ubelstand. Gegen einem großen Minister, dem etwas Hohes aus den Augen leuchtet, haben die Leute wegen seiner gravi- taetischen Mine, eine Ehrfurcht, und hingegen den andern, der ihm bey seiner geringen Bedienung nachthun will, halten sie vor einen Phantasten. §. 10. Das manierliche Wesen wird nicht auf beflissen,
I. Theil. VI. Capitul. wegen doch nicht den mercklichen Unterſcheid, derſich zwiſchen ihnen und jenen findet, und inſonder- heit in Betrachtung gezogen werden ſolte. Man- cher junger Menſch, dem wegen ſeiner ſchlechten Auferziehung, die er erfahren, die Hof-Manieren unbekandt, ſperrt Maul und Augen auf, wenn er nach Hofe koͤmmt; So bald er nun einen erblickt, der entweder von dem andern vor ſehr manierlich geachtet wird, oder deſſen Thun und Weſen ihm nach ſeiner eigenen Wahl am beſten anſtehet, ſo will er ihn gleich in allen Tritten und Schritten, Worten und Geberden nachahmen, macht ſich aber durch dieſe gezwungene Nachahmung noch weit laͤ- cherlicher als zuvor. Was bey jenem wegen ſei- ner Taille, Geberden, natuͤrlichen Beſchaffenheit des Leibes, auch wohl wegen ſeines Characters und anderer moraliſchen Umſtaͤnde ein Wohlſtand, iſt hingegen bey dieſem der groͤſte Ubelſtand. Gegen einem großen Miniſter, dem etwas Hohes aus den Augen leuchtet, haben die Leute wegen ſeiner gravi- tætiſchen Mine, eine Ehrfurcht, und hingegen den andern, der ihm bey ſeiner geringen Bedienung nachthun will, halten ſie vor einen Phantaſten. §. 10. Das manierliche Weſen wird nicht auf befliſſen,
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I. Theil. VI. Capitul.
wegen doch nicht den mercklichen Unterſcheid, der
ſich zwiſchen ihnen und jenen findet, und inſonder-
heit in Betrachtung gezogen werden ſolte. Man-
cher junger Menſch, dem wegen ſeiner ſchlechten
Auferziehung, die er erfahren, die Hof-Manieren
unbekandt, ſperrt Maul und Augen auf, wenn er
nach Hofe koͤmmt; So bald er nun einen erblickt,
der entweder von dem andern vor ſehr manierlich
geachtet wird, oder deſſen Thun und Weſen ihm
nach ſeiner eigenen Wahl am beſten anſtehet, ſo
will er ihn gleich in allen Tritten und Schritten,
Worten und Geberden nachahmen, macht ſich aber
durch dieſe gezwungene Nachahmung noch weit laͤ-
cherlicher als zuvor. Was bey jenem wegen ſei-
ner Taille, Geberden, natuͤrlichen Beſchaffenheit
des Leibes, auch wohl wegen ſeines Characters und
anderer moraliſchen Umſtaͤnde ein Wohlſtand, iſt
hingegen bey dieſem der groͤſte Ubelſtand. Gegen
einem großen Miniſter, dem etwas Hohes aus den
Augen leuchtet, haben die Leute wegen ſeiner gravi-
tætiſchen Mine, eine Ehrfurcht, und hingegen den
andern, der ihm bey ſeiner geringen Bedienung
nachthun will, halten ſie vor einen Phantaſten.
§. 10. Das manierliche Weſen wird nicht auf
einmahl und durch einen jaͤhlingen Sprung einer
gewaltſamen Nachahmung, ſondern durch fleißige
Ubung und Application erlernt. Manche junge
Leute thaͤten weit beſſer, wenn ſie ſich anfaͤnglich in
ihren Geberden, Worten und Handlungen einer
natuͤrlichen Erbarkeit, Sittſamkeit und Demuth
befliſſen,
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