Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863.

Bild:
<< vorherige Seite

auch vorkommt, das Unkraut die jungen Baumpflänzchen überwuchert,
erstickt und "verdämmt".

Wenn der Großstädter aus der deutschen Ebene einmal ins Gebirge
auf solch einen blumenstrotzenden Waldschlag kommt, so kann er nicht müde
werden, die ihm großentheils neuen Pflanzen zu mustern. Neben dem
herrlichen Weidenröschen erblickt er den stattlichen Hohlzahn, Galeopsis
versicolor,
mit seinen großen citronengelben Lippenblumen mit dem violetten
Flecken an der Unterlippe; in den fast schwarzen großen Beeren, die er noch
nie gesehen, erräth er die Tollkirsche, Atropa belladonna, denn gerade
so drohend und doch zum Kosten einladend ist sie ihm ja in der Schule be-
schrieben worden. Zu den Füßen der fast mannshohen Giftpflanze ladet ihn
nicht vergebens die würzige Erdbeere ein, unter ihrer Blätterdreifaltigkeit
hervorgrüßend. Neben überraschend stattlichen Federbüschen des weiblichen
Milzfarrn,
Asplenium filix femina, giebt ihm das Rühremichnichtan,
Impatiens Nolimetangere, ihr Blumenräthsel auf und erschreckt ihn wohl
mit dem geschoßähnlichen Aufspringen ihrer nur leise berührten Früchte.
Wenn es ihm daheim niemals einfiel, Heidelbeeren zu essen, hier liest
er mit Mühe die vereinzelt an den Büschchen stehenden Beeren auf. Im
Hochsommer sieht er entzückt und mit einem "was ist das!" die brennend
korallrothen Trauben des Traubenhollunders, Sambucus racemosa,
an; sicher in der ganzen deutschen Flora das vollendetste Beispiel dieser
schönen Farbe. Ganze Flächen sind mit einem bunten Muster von dem
reinsten Violett und Hochgelb überzogen, welches die Deckblätter und
Blüthen des Kuhweizens, Melampyrum nemorosum, bilden. Riesige
Binsenbüsche und mannshohe Waldgräser, voran die zierlichen Rispen
der Calamagrosten, am Boden kriechende, mit Millionen weißen Stern-
blümchen besäete Labkräuter -- Alles, Alles fesselt seine Aufmerksamkeit.

Es ist schon oben gesagt worden, daß eine Menge höherer, d. h. im
Systeme einen hohen Rang einnehmender Pflanzen ausschließend oder vor-
zugsweise ihre Heimath im Walde haben, und es würde jetzt eine lange
Namenreihe geben, wenn wir diese Pflanzen alle aufzählen wollten; es
mögen darum vorstehende Beispiele genügen. Es ist keine Pflanzenfamilie
der Blüthenpflanzen, von den Gräsern bis zu den am höchsten stehenden
Thalamifloren des Reichenbach'schen Systems, welche nicht ihre Ver-
treterinnen im Waldesgrunde hätten.

auch vorkommt, das Unkraut die jungen Baumpflänzchen überwuchert,
erſtickt und „verdämmt“.

Wenn der Großſtädter aus der deutſchen Ebene einmal ins Gebirge
auf ſolch einen blumenſtrotzenden Waldſchlag kommt, ſo kann er nicht müde
werden, die ihm großentheils neuen Pflanzen zu muſtern. Neben dem
herrlichen Weidenröschen erblickt er den ſtattlichen Hohlzahn, Galeopsis
versicolor,
mit ſeinen großen citronengelben Lippenblumen mit dem violetten
Flecken an der Unterlippe; in den faſt ſchwarzen großen Beeren, die er noch
nie geſehen, erräth er die Tollkirſche, Atropa belladonna, denn gerade
ſo drohend und doch zum Koſten einladend iſt ſie ihm ja in der Schule be-
ſchrieben worden. Zu den Füßen der faſt mannshohen Giftpflanze ladet ihn
nicht vergebens die würzige Erdbeere ein, unter ihrer Blätterdreifaltigkeit
hervorgrüßend. Neben überraſchend ſtattlichen Federbüſchen des weiblichen
Milzfarrn,
Asplenium filix femina, giebt ihm das Rühremichnichtan,
Impatiens Nolimetangere, ihr Blumenräthſel auf und erſchreckt ihn wohl
mit dem geſchoßähnlichen Aufſpringen ihrer nur leiſe berührten Früchte.
Wenn es ihm daheim niemals einfiel, Heidelbeeren zu eſſen, hier lieſt
er mit Mühe die vereinzelt an den Büſchchen ſtehenden Beeren auf. Im
Hochſommer ſieht er entzückt und mit einem „was iſt das!“ die brennend
korallrothen Trauben des Traubenhollunders, Sambucus racemosa,
an; ſicher in der ganzen deutſchen Flora das vollendetſte Beiſpiel dieſer
ſchönen Farbe. Ganze Flächen ſind mit einem bunten Muſter von dem
reinſten Violett und Hochgelb überzogen, welches die Deckblätter und
Blüthen des Kuhweizens, Melampyrum nemorosum, bilden. Rieſige
Binſenbüſche und mannshohe Waldgräſer, voran die zierlichen Rispen
der Calamagroſten, am Boden kriechende, mit Millionen weißen Stern-
blümchen beſäete Labkräuter — Alles, Alles feſſelt ſeine Aufmerkſamkeit.

Es iſt ſchon oben geſagt worden, daß eine Menge höherer, d. h. im
Syſteme einen hohen Rang einnehmender Pflanzen ausſchließend oder vor-
zugsweiſe ihre Heimath im Walde haben, und es würde jetzt eine lange
Namenreihe geben, wenn wir dieſe Pflanzen alle aufzählen wollten; es
mögen darum vorſtehende Beiſpiele genügen. Es iſt keine Pflanzenfamilie
der Blüthenpflanzen, von den Gräſern bis zu den am höchſten ſtehenden
Thalamifloren des Reichenbach’ſchen Syſtems, welche nicht ihre Ver-
treterinnen im Waldesgrunde hätten.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0063" n="39"/>
auch vorkommt, das Unkraut die jungen Baumpflänzchen überwuchert,<lb/>
er&#x017F;tickt und &#x201E;verdämmt&#x201C;.</p><lb/>
          <p>Wenn der Groß&#x017F;tädter aus der deut&#x017F;chen Ebene einmal ins Gebirge<lb/>
auf &#x017F;olch einen blumen&#x017F;trotzenden Wald&#x017F;chlag kommt, &#x017F;o kann er nicht müde<lb/>
werden, die ihm großentheils neuen Pflanzen zu mu&#x017F;tern. Neben dem<lb/>
herrlichen Weidenröschen erblickt er den &#x017F;tattlichen <hi rendition="#g">Hohlzahn,</hi> <hi rendition="#aq">Galeopsis<lb/>
versicolor,</hi> mit &#x017F;einen großen citronengelben Lippenblumen mit dem violetten<lb/>
Flecken an der Unterlippe; in den fa&#x017F;t &#x017F;chwarzen großen Beeren, die er noch<lb/>
nie ge&#x017F;ehen, erräth er die <hi rendition="#g">Tollkir&#x017F;che,</hi> <hi rendition="#aq">Atropa belladonna,</hi> denn gerade<lb/>
&#x017F;o drohend und doch zum Ko&#x017F;ten einladend i&#x017F;t &#x017F;ie ihm ja in der Schule be-<lb/>
&#x017F;chrieben worden. Zu den Füßen der fa&#x017F;t mannshohen Giftpflanze ladet ihn<lb/>
nicht vergebens die würzige <hi rendition="#g">Erdbeere</hi> ein, unter ihrer Blätterdreifaltigkeit<lb/>
hervorgrüßend. Neben überra&#x017F;chend &#x017F;tattlichen Federbü&#x017F;chen des <hi rendition="#g">weiblichen<lb/>
Milzfarrn,</hi> <hi rendition="#aq">Asplenium filix femina,</hi> giebt ihm das <hi rendition="#g">Rühremichnichtan,</hi><lb/><hi rendition="#aq">Impatiens Nolimetangere,</hi> ihr Blumenräth&#x017F;el auf und er&#x017F;chreckt ihn wohl<lb/>
mit dem ge&#x017F;choßähnlichen Auf&#x017F;pringen ihrer nur lei&#x017F;e berührten Früchte.<lb/>
Wenn es ihm daheim niemals einfiel, <hi rendition="#g">Heidelbeeren</hi> zu e&#x017F;&#x017F;en, hier lie&#x017F;t<lb/>
er mit Mühe die vereinzelt an den Bü&#x017F;chchen &#x017F;tehenden Beeren auf. Im<lb/>
Hoch&#x017F;ommer &#x017F;ieht er entzückt und mit einem &#x201E;was i&#x017F;t das!&#x201C; die brennend<lb/>
korallrothen Trauben des <hi rendition="#g">Traubenhollunders,</hi> <hi rendition="#aq">Sambucus racemosa,</hi><lb/>
an; &#x017F;icher in der ganzen deut&#x017F;chen Flora das vollendet&#x017F;te Bei&#x017F;piel die&#x017F;er<lb/>
&#x017F;chönen Farbe. Ganze Flächen &#x017F;ind mit einem bunten Mu&#x017F;ter von dem<lb/>
rein&#x017F;ten Violett und Hochgelb überzogen, welches die Deckblätter und<lb/>
Blüthen des <hi rendition="#g">Kuhweizens,</hi> <hi rendition="#aq">Melampyrum nemorosum,</hi> bilden. Rie&#x017F;ige<lb/><hi rendition="#g">Bin&#x017F;enbü&#x017F;che</hi> und mannshohe <hi rendition="#g">Waldgrä&#x017F;er,</hi> voran die zierlichen Rispen<lb/>
der <hi rendition="#g">Calamagro&#x017F;ten,</hi> am Boden kriechende, mit Millionen weißen Stern-<lb/>
blümchen be&#x017F;äete <hi rendition="#g">Labkräuter</hi> &#x2014; Alles, Alles fe&#x017F;&#x017F;elt &#x017F;eine Aufmerk&#x017F;amkeit.</p><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t &#x017F;chon oben ge&#x017F;agt worden, daß eine Menge höherer, d. h. im<lb/>
Sy&#x017F;teme einen hohen Rang einnehmender Pflanzen aus&#x017F;chließend oder vor-<lb/>
zugswei&#x017F;e ihre Heimath im Walde haben, und es würde jetzt eine lange<lb/>
Namenreihe geben, wenn wir die&#x017F;e Pflanzen alle aufzählen wollten; es<lb/>
mögen darum vor&#x017F;tehende Bei&#x017F;piele genügen. Es i&#x017F;t keine Pflanzenfamilie<lb/>
der Blüthenpflanzen, von den Grä&#x017F;ern bis zu den am höch&#x017F;ten &#x017F;tehenden<lb/>
Thalamifloren des Reichenbach&#x2019;&#x017F;chen Sy&#x017F;tems, welche nicht ihre Ver-<lb/>
treterinnen im Waldesgrunde hätten.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0063] auch vorkommt, das Unkraut die jungen Baumpflänzchen überwuchert, erſtickt und „verdämmt“. Wenn der Großſtädter aus der deutſchen Ebene einmal ins Gebirge auf ſolch einen blumenſtrotzenden Waldſchlag kommt, ſo kann er nicht müde werden, die ihm großentheils neuen Pflanzen zu muſtern. Neben dem herrlichen Weidenröschen erblickt er den ſtattlichen Hohlzahn, Galeopsis versicolor, mit ſeinen großen citronengelben Lippenblumen mit dem violetten Flecken an der Unterlippe; in den faſt ſchwarzen großen Beeren, die er noch nie geſehen, erräth er die Tollkirſche, Atropa belladonna, denn gerade ſo drohend und doch zum Koſten einladend iſt ſie ihm ja in der Schule be- ſchrieben worden. Zu den Füßen der faſt mannshohen Giftpflanze ladet ihn nicht vergebens die würzige Erdbeere ein, unter ihrer Blätterdreifaltigkeit hervorgrüßend. Neben überraſchend ſtattlichen Federbüſchen des weiblichen Milzfarrn, Asplenium filix femina, giebt ihm das Rühremichnichtan, Impatiens Nolimetangere, ihr Blumenräthſel auf und erſchreckt ihn wohl mit dem geſchoßähnlichen Aufſpringen ihrer nur leiſe berührten Früchte. Wenn es ihm daheim niemals einfiel, Heidelbeeren zu eſſen, hier lieſt er mit Mühe die vereinzelt an den Büſchchen ſtehenden Beeren auf. Im Hochſommer ſieht er entzückt und mit einem „was iſt das!“ die brennend korallrothen Trauben des Traubenhollunders, Sambucus racemosa, an; ſicher in der ganzen deutſchen Flora das vollendetſte Beiſpiel dieſer ſchönen Farbe. Ganze Flächen ſind mit einem bunten Muſter von dem reinſten Violett und Hochgelb überzogen, welches die Deckblätter und Blüthen des Kuhweizens, Melampyrum nemorosum, bilden. Rieſige Binſenbüſche und mannshohe Waldgräſer, voran die zierlichen Rispen der Calamagroſten, am Boden kriechende, mit Millionen weißen Stern- blümchen beſäete Labkräuter — Alles, Alles feſſelt ſeine Aufmerkſamkeit. Es iſt ſchon oben geſagt worden, daß eine Menge höherer, d. h. im Syſteme einen hohen Rang einnehmender Pflanzen ausſchließend oder vor- zugsweiſe ihre Heimath im Walde haben, und es würde jetzt eine lange Namenreihe geben, wenn wir dieſe Pflanzen alle aufzählen wollten; es mögen darum vorſtehende Beiſpiele genügen. Es iſt keine Pflanzenfamilie der Blüthenpflanzen, von den Gräſern bis zu den am höchſten ſtehenden Thalamifloren des Reichenbach’ſchen Syſtems, welche nicht ihre Ver- treterinnen im Waldesgrunde hätten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/63
Zitationshilfe: Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/63>, abgerufen am 22.12.2024.