baren Schritten geht sie der Vollendung entgegen. Jhr Blick wird täglich klarer, ihre Physionomie immer heiliger. Der Schmerz bildet ein bleiben- des Lächeln in ihren Zügen. Jmmer, es sey Tag oder Nacht, ist eine von uns in ihrer Nähe. "Ha- be ich jetzt die himmlische Wache schon sichtbar um mich? sagte sie neulich. O wer wird euch eure Treue für mich vergelten! Jch kann es ja nicht mehr. Aber so im Hauch der Liebe vergehen, heißt das denn auch sterben? Wenn die Blätter abfallen, dann falle auch ich, aber ich falle sanft wie sie, und noch mehr bedauert -- aber nein, ihr werdet nicht trauern, ihr liebt mich zu sehr. Der Weg ist dunkel, den ich noch gehen muß; aber der Stern des neuen Morgens glänzt mir immer heller und heller, je enger der Weg, je dunkler die Nacht um mich wird." -- Es war eines Abends, als sie so red[ete], wir alle waren um ihr Bett versammelt. Es war eine heilige Stille. Clärchen schien im Schmerz zu vergehen. Seitdem sind wieder Tage oder doch Stunden voll Lebenshoff- nung eingetreten. Nur Deborah scheint nicht zu hoffen. Doch sagt sie das nicht gerad aus.
baren Schritten geht ſie der Vollendung entgegen. Jhr Blick wird täglich klarer, ihre Phyſionomie immer heiliger. Der Schmerz bildet ein bleiben- des Lächeln in ihren Zügen. Jmmer, es ſey Tag oder Nacht, iſt eine von uns in ihrer Nähe. „Ha- be ich jetzt die himmliſche Wache ſchon ſichtbar um mich? ſagte ſie neulich. O wer wird euch eure Treue für mich vergelten! Jch kann es ja nicht mehr. Aber ſo im Hauch der Liebe vergehen, heißt das denn auch ſterben? Wenn die Blätter abfallen, dann falle auch ich, aber ich falle ſanft wie ſie, und noch mehr bedauert — aber nein, ihr werdet nicht trauern, ihr liebt mich zu ſehr. Der Weg iſt dunkel, den ich noch gehen muß; aber der Stern des neuen Morgens glänzt mir immer heller und heller, je enger der Weg, je dunkler die Nacht um mich wird.‟ — Es war eines Abends, als ſie ſo red[ete], wir alle waren um ihr Bett verſammelt. Es war eine heilige Stille. Clärchen ſchien im Schmerz zu vergehen. Seitdem ſind wieder Tage oder doch Stunden voll Lebenshoff- nung eingetreten. Nur Deborah ſcheint nicht zu hoffen. Doch ſagt ſie das nicht gerad aus.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0108"n="100"/>
baren Schritten geht ſie der Vollendung entgegen.<lb/>
Jhr Blick wird täglich klarer, ihre Phyſionomie<lb/>
immer heiliger. Der Schmerz bildet ein bleiben-<lb/>
des Lächeln in ihren Zügen. Jmmer, es ſey Tag<lb/>
oder Nacht, iſt eine von uns in ihrer Nähe. „Ha-<lb/>
be ich jetzt die himmliſche Wache ſchon ſichtbar um<lb/>
mich? ſagte ſie neulich. O wer wird euch eure<lb/>
Treue für mich vergelten! Jch kann es ja nicht<lb/>
mehr. Aber ſo im Hauch der Liebe vergehen,<lb/>
heißt das denn auch ſterben? Wenn die Blätter<lb/>
abfallen, dann falle auch ich, aber ich falle ſanft<lb/>
wie ſie, und noch mehr bedauert — aber nein, ihr<lb/>
werdet nicht trauern, ihr liebt mich zu ſehr. Der<lb/>
Weg iſt dunkel, den ich noch gehen muß; aber<lb/>
der Stern des neuen Morgens glänzt mir immer<lb/>
heller und heller, je enger der Weg, je dunkler<lb/>
die Nacht um mich wird.‟— Es war eines Abends,<lb/>
als ſie ſo red<supplied>ete</supplied>, wir alle waren um ihr Bett<lb/>
verſammelt. Es war eine heilige Stille. Clärchen<lb/>ſchien im Schmerz zu vergehen. Seitdem ſind<lb/>
wieder Tage oder doch Stunden voll Lebenshoff-<lb/>
nung eingetreten. Nur Deborah ſcheint nicht zu<lb/>
hoffen. Doch ſagt ſie das nicht gerad aus.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[100/0108]
baren Schritten geht ſie der Vollendung entgegen.
Jhr Blick wird täglich klarer, ihre Phyſionomie
immer heiliger. Der Schmerz bildet ein bleiben-
des Lächeln in ihren Zügen. Jmmer, es ſey Tag
oder Nacht, iſt eine von uns in ihrer Nähe. „Ha-
be ich jetzt die himmliſche Wache ſchon ſichtbar um
mich? ſagte ſie neulich. O wer wird euch eure
Treue für mich vergelten! Jch kann es ja nicht
mehr. Aber ſo im Hauch der Liebe vergehen,
heißt das denn auch ſterben? Wenn die Blätter
abfallen, dann falle auch ich, aber ich falle ſanft
wie ſie, und noch mehr bedauert — aber nein, ihr
werdet nicht trauern, ihr liebt mich zu ſehr. Der
Weg iſt dunkel, den ich noch gehen muß; aber
der Stern des neuen Morgens glänzt mir immer
heller und heller, je enger der Weg, je dunkler
die Nacht um mich wird.‟ — Es war eines Abends,
als ſie ſo redete, wir alle waren um ihr Bett
verſammelt. Es war eine heilige Stille. Clärchen
ſchien im Schmerz zu vergehen. Seitdem ſind
wieder Tage oder doch Stunden voll Lebenshoff-
nung eingetreten. Nur Deborah ſcheint nicht zu
hoffen. Doch ſagt ſie das nicht gerad aus.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/108>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.