Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

baren Schritten geht sie der Vollendung entgegen.
Jhr Blick wird täglich klarer, ihre Physionomie
immer heiliger. Der Schmerz bildet ein bleiben-
des Lächeln in ihren Zügen. Jmmer, es sey Tag
oder Nacht, ist eine von uns in ihrer Nähe. "Ha-
be ich jetzt die himmlische Wache schon sichtbar um
mich? sagte sie neulich. O wer wird euch eure
Treue für mich vergelten! Jch kann es ja nicht
mehr. Aber so im Hauch der Liebe vergehen,
heißt das denn auch sterben? Wenn die Blätter
abfallen, dann falle auch ich, aber ich falle sanft
wie sie, und noch mehr bedauert -- aber nein, ihr
werdet nicht trauern, ihr liebt mich zu sehr. Der
Weg ist dunkel, den ich noch gehen muß; aber
der Stern des neuen Morgens glänzt mir immer
heller und heller, je enger der Weg, je dunkler
die Nacht um mich wird." -- Es war eines Abends,
als sie so red[ete], wir alle waren um ihr Bett
versammelt. Es war eine heilige Stille. Clärchen
schien im Schmerz zu vergehen. Seitdem sind
wieder Tage oder doch Stunden voll Lebenshoff-
nung eingetreten. Nur Deborah scheint nicht zu
hoffen. Doch sagt sie das nicht gerad aus.

baren Schritten geht ſie der Vollendung entgegen.
Jhr Blick wird täglich klarer, ihre Phyſionomie
immer heiliger. Der Schmerz bildet ein bleiben-
des Lächeln in ihren Zügen. Jmmer, es ſey Tag
oder Nacht, iſt eine von uns in ihrer Nähe. „Ha-
be ich jetzt die himmliſche Wache ſchon ſichtbar um
mich? ſagte ſie neulich. O wer wird euch eure
Treue für mich vergelten! Jch kann es ja nicht
mehr. Aber ſo im Hauch der Liebe vergehen,
heißt das denn auch ſterben? Wenn die Blätter
abfallen, dann falle auch ich, aber ich falle ſanft
wie ſie, und noch mehr bedauert — aber nein, ihr
werdet nicht trauern, ihr liebt mich zu ſehr. Der
Weg iſt dunkel, den ich noch gehen muß; aber
der Stern des neuen Morgens glänzt mir immer
heller und heller, je enger der Weg, je dunkler
die Nacht um mich wird.‟ — Es war eines Abends,
als ſie ſo red[ete], wir alle waren um ihr Bett
verſammelt. Es war eine heilige Stille. Clärchen
ſchien im Schmerz zu vergehen. Seitdem ſind
wieder Tage oder doch Stunden voll Lebenshoff-
nung eingetreten. Nur Deborah ſcheint nicht zu
hoffen. Doch ſagt ſie das nicht gerad aus.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0108" n="100"/>
baren Schritten geht &#x017F;ie der Vollendung entgegen.<lb/>
Jhr Blick wird täglich klarer, ihre Phy&#x017F;ionomie<lb/>
immer heiliger. Der Schmerz bildet ein bleiben-<lb/>
des Lächeln in ihren Zügen. Jmmer, es &#x017F;ey Tag<lb/>
oder Nacht, i&#x017F;t eine von uns in ihrer Nähe. &#x201E;Ha-<lb/>
be ich jetzt die himmli&#x017F;che Wache &#x017F;chon &#x017F;ichtbar um<lb/>
mich? &#x017F;agte &#x017F;ie neulich. O wer wird euch eure<lb/>
Treue für mich vergelten! Jch kann es ja nicht<lb/>
mehr. Aber &#x017F;o im Hauch der Liebe vergehen,<lb/>
heißt das denn auch &#x017F;terben? Wenn die Blätter<lb/>
abfallen, dann falle auch ich, aber ich falle &#x017F;anft<lb/>
wie &#x017F;ie, und noch mehr bedauert &#x2014; aber nein, ihr<lb/>
werdet nicht trauern, ihr liebt mich zu &#x017F;ehr. Der<lb/>
Weg i&#x017F;t dunkel, den ich noch gehen muß; aber<lb/>
der Stern des neuen Morgens glänzt mir immer<lb/>
heller und heller, je enger der Weg, je dunkler<lb/>
die Nacht um mich wird.&#x201F; &#x2014; Es war eines Abends,<lb/>
als &#x017F;ie &#x017F;o red<supplied>ete</supplied>, wir alle waren um ihr Bett<lb/>
ver&#x017F;ammelt. Es war eine heilige Stille. Clärchen<lb/>
&#x017F;chien im Schmerz zu vergehen. Seitdem &#x017F;ind<lb/>
wieder Tage oder doch Stunden voll Lebenshoff-<lb/>
nung eingetreten. Nur Deborah &#x017F;cheint nicht zu<lb/>
hoffen. Doch &#x017F;agt &#x017F;ie das nicht gerad aus.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0108] baren Schritten geht ſie der Vollendung entgegen. Jhr Blick wird täglich klarer, ihre Phyſionomie immer heiliger. Der Schmerz bildet ein bleiben- des Lächeln in ihren Zügen. Jmmer, es ſey Tag oder Nacht, iſt eine von uns in ihrer Nähe. „Ha- be ich jetzt die himmliſche Wache ſchon ſichtbar um mich? ſagte ſie neulich. O wer wird euch eure Treue für mich vergelten! Jch kann es ja nicht mehr. Aber ſo im Hauch der Liebe vergehen, heißt das denn auch ſterben? Wenn die Blätter abfallen, dann falle auch ich, aber ich falle ſanft wie ſie, und noch mehr bedauert — aber nein, ihr werdet nicht trauern, ihr liebt mich zu ſehr. Der Weg iſt dunkel, den ich noch gehen muß; aber der Stern des neuen Morgens glänzt mir immer heller und heller, je enger der Weg, je dunkler die Nacht um mich wird.‟ — Es war eines Abends, als ſie ſo redete, wir alle waren um ihr Bett verſammelt. Es war eine heilige Stille. Clärchen ſchien im Schmerz zu vergehen. Seitdem ſind wieder Tage oder doch Stunden voll Lebenshoff- nung eingetreten. Nur Deborah ſcheint nicht zu hoffen. Doch ſagt ſie das nicht gerad aus.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/108
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/108>, abgerufen am 21.11.2024.