Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

den nach sich gezogen. Doch ich fahre in der Er-
zählung fort. Unter wechselnder Hoffnung und
trostloser Resignation verlebten wir noch einige
Wochen. Endlich, an einem schönen heitern Win-
termorgen voll Frühlingshoffnung, ließ Deborah
uns wieder alle zu sich bitten. Es war noch früh.
Orion erlosch im Westen. Der Ost röthete sich
ungewöhnlich schön. "Dies ist die letzte irdische
Morgenröthe für mich; laßt sie mich noch mit
euch sehen." Mit sehr schwacher Stimme sprach
die Kranke diese Worte. Die Kinder zerfloßen
in Thränen.

O nimm mich mit dir, Mutter, rief mit Hef-
tigkeit die blasse fast ganz verstummende Betty.
Jch darf, ich will nicht mehr leben. Der Vater
kämpfte mit zerreissendem Schmerz, und kämpfte
um Ruhe: er wollte der letzten Augenblicke seiner
geliebten Deborah keinen verlieren. Flehend um
Ruhe sah er Betty an. -- "Bleibt alle noch recht
nahe bei mir, daß ich eure Blicke voll Liebe schaue,
bis mein Auge bricht; so lange mein Ohr noch
Töne aufnehmen kann, laßt mich Worte der Liebe

(14)

den nach ſich gezogen. Doch ich fahre in der Er-
zählung fort. Unter wechſelnder Hoffnung und
troſtloſer Reſignation verlebten wir noch einige
Wochen. Endlich, an einem ſchönen heitern Win-
termorgen voll Frühlingshoffnung, ließ Deborah
uns wieder alle zu ſich bitten. Es war noch früh.
Orion erloſch im Weſten. Der Oſt röthete ſich
ungewöhnlich ſchön. „Dies iſt die letzte irdiſche
Morgenröthe für mich; laßt ſie mich noch mit
euch ſehen.‟ Mit ſehr ſchwacher Stimme ſprach
die Kranke dieſe Worte. Die Kinder zerfloßen
in Thränen.

O nimm mich mit dir, Mutter, rief mit Hef-
tigkeit die blaſſe faſt ganz verſtummende Betty.
Jch darf, ich will nicht mehr leben. Der Vater
kämpfte mit zerreiſſendem Schmerz, und kämpfte
um Ruhe: er wollte der letzten Augenblicke ſeiner
geliebten Deborah keinen verlieren. Flehend um
Ruhe ſah er Betty an. — „Bleibt alle noch recht
nahe bei mir, daß ich eure Blicke voll Liebe ſchaue,
bis mein Auge bricht; ſo lange mein Ohr noch
Töne aufnehmen kann, laßt mich Worte der Liebe

(14)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0113" n="105"/>
den nach &#x017F;ich gezogen. Doch ich fahre in der Er-<lb/>
zählung fort. Unter wech&#x017F;elnder Hoffnung und<lb/>
tro&#x017F;tlo&#x017F;er Re&#x017F;ignation verlebten wir noch einige<lb/>
Wochen. Endlich, an einem &#x017F;chönen heitern Win-<lb/>
termorgen voll Frühlingshoffnung, ließ Deborah<lb/>
uns wieder alle zu &#x017F;ich bitten. Es war noch früh.<lb/>
Orion erlo&#x017F;ch im We&#x017F;ten. Der O&#x017F;t röthete &#x017F;ich<lb/>
ungewöhnlich &#x017F;chön. &#x201E;Dies i&#x017F;t die letzte irdi&#x017F;che<lb/>
Morgenröthe für mich; laßt &#x017F;ie mich noch mit<lb/>
euch &#x017F;ehen.&#x201F; Mit &#x017F;ehr &#x017F;chwacher Stimme &#x017F;prach<lb/>
die Kranke die&#x017F;e Worte. Die Kinder zerfloßen<lb/>
in Thränen.</p><lb/>
          <p>O nimm mich mit dir, Mutter, rief mit Hef-<lb/>
tigkeit die bla&#x017F;&#x017F;e fa&#x017F;t ganz ver&#x017F;tummende Betty.<lb/>
Jch darf, ich will nicht mehr leben. Der Vater<lb/>
kämpfte mit zerrei&#x017F;&#x017F;endem Schmerz, und kämpfte<lb/>
um Ruhe: er wollte der letzten Augenblicke &#x017F;einer<lb/>
geliebten Deborah keinen verlieren. Flehend um<lb/>
Ruhe &#x017F;ah er Betty an. &#x2014; &#x201E;Bleibt alle noch recht<lb/>
nahe bei mir, daß ich eure Blicke voll Liebe &#x017F;chaue,<lb/>
bis mein Auge bricht; &#x017F;o lange mein Ohr noch<lb/>
Töne aufnehmen kann, laßt mich Worte der Liebe<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">(14)</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[105/0113] den nach ſich gezogen. Doch ich fahre in der Er- zählung fort. Unter wechſelnder Hoffnung und troſtloſer Reſignation verlebten wir noch einige Wochen. Endlich, an einem ſchönen heitern Win- termorgen voll Frühlingshoffnung, ließ Deborah uns wieder alle zu ſich bitten. Es war noch früh. Orion erloſch im Weſten. Der Oſt röthete ſich ungewöhnlich ſchön. „Dies iſt die letzte irdiſche Morgenröthe für mich; laßt ſie mich noch mit euch ſehen.‟ Mit ſehr ſchwacher Stimme ſprach die Kranke dieſe Worte. Die Kinder zerfloßen in Thränen. O nimm mich mit dir, Mutter, rief mit Hef- tigkeit die blaſſe faſt ganz verſtummende Betty. Jch darf, ich will nicht mehr leben. Der Vater kämpfte mit zerreiſſendem Schmerz, und kämpfte um Ruhe: er wollte der letzten Augenblicke ſeiner geliebten Deborah keinen verlieren. Flehend um Ruhe ſah er Betty an. — „Bleibt alle noch recht nahe bei mir, daß ich eure Blicke voll Liebe ſchaue, bis mein Auge bricht; ſo lange mein Ohr noch Töne aufnehmen kann, laßt mich Worte der Liebe (14)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/113
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/113>, abgerufen am 21.11.2024.