ganze kleine Häuflein war eines Abends in einem Halbkreise um meinen Sopha versammelt; ich hat- te ihnen einen Thee versprochen, wobei immer ge- lesen wird. Wir lasen die Geschwister von Göthe; uns allen war es so von Herzen behaglich. Da sprang die Thür auf. Die Magd, die einen Fremden anmeldete, trat herein, der Fremde un- mittelbar hinter ihr. Die Uniform überhob uns aller Zweifel. Mathilde blickte zuletzt auf. Jhn anschauen, ihm um den Hals fliegen, und Bru- der! Bruder! rufen war eins.
Sie hielten sich lange schweigend umfaßt. Gro- ße Tropfen rollten von Mathildens Wangen. Bald schloß sich ein Kreis um die beiden. O ein schöner Kranz liebender Menschen! Jch ließ sie lange gewähren. Endlich nach oft abgebrochener, oft wiederholter Umarmung nahm Mathilde den Fähnrich bei der Hand, und führte ihn zu mir. Sieh Bruder, das ist meine Mutter, mein Schutzengel. Jhr danke ich alles, was ich bin und was ich noch werden kann. Sie hat mich mir selbst geschenkt. Und nun kann ich auch dir
(21)
ganze kleine Häuflein war eines Abends in einem Halbkreiſe um meinen Sopha verſammelt; ich hat- te ihnen einen Thee verſprochen, wobei immer ge- leſen wird. Wir laſen die Geſchwiſter von Göthe; uns allen war es ſo von Herzen behaglich. Da ſprang die Thür auf. Die Magd, die einen Fremden anmeldete, trat herein, der Fremde un- mittelbar hinter ihr. Die Uniform überhob uns aller Zweifel. Mathilde blickte zuletzt auf. Jhn anſchauen, ihm um den Hals fliegen, und Bru- der! Bruder! rufen war eins.
Sie hielten ſich lange ſchweigend umfaßt. Gro- ße Tropfen rollten von Mathildens Wangen. Bald ſchloß ſich ein Kreis um die beiden. O ein ſchöner Kranz liebender Menſchen! Jch ließ ſie lange gewähren. Endlich nach oft abgebrochener, oft wiederholter Umarmung nahm Mathilde den Fähnrich bei der Hand, und führte ihn zu mir. Sieh Bruder, das iſt meine Mutter, mein Schutzengel. Jhr danke ich alles, was ich bin und was ich noch werden kann. Sie hat mich mir ſelbſt geſchenkt. Und nun kann ich auch dir
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ganze kleine Häuflein war eines Abends in einem
Halbkreiſe um meinen Sopha verſammelt; ich hat-
te ihnen einen Thee verſprochen, wobei immer ge-
leſen wird. Wir laſen die Geſchwiſter von Göthe;
uns allen war es ſo von Herzen behaglich. Da
ſprang die Thür auf. Die Magd, die einen
Fremden anmeldete, trat herein, der Fremde un-
mittelbar hinter ihr. Die Uniform überhob uns
aller Zweifel. Mathilde blickte zuletzt auf. Jhn
anſchauen, ihm um den Hals fliegen, und Bru-
der! Bruder! rufen war eins.
Sie hielten ſich lange ſchweigend umfaßt. Gro-
ße Tropfen rollten von Mathildens Wangen.
Bald ſchloß ſich ein Kreis um die beiden. O ein
ſchöner Kranz liebender Menſchen! Jch ließ ſie
lange gewähren. Endlich nach oft abgebrochener,
oft wiederholter Umarmung nahm Mathilde den
Fähnrich bei der Hand, und führte ihn zu mir.
Sieh Bruder, das iſt meine Mutter, mein
Schutzengel. Jhr danke ich alles, was ich bin
und was ich noch werden kann. Sie hat mich
mir ſelbſt geſchenkt. Und nun kann ich auch dir
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/169>, abgerufen am 21.11.2024.
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