nahm sie, ihrer unterbrochenen Arbeit sich besinnend, rasch wieder Nadel und Faden auf.
Der Ankömmling erwiederte nichts, sondern schleppte sich blos ein paar Schritte seitwärts, wo er sich mit allen Zeichen der Erschöpfung im Grase niederließ. Dort lag er, während die Sonne tiefer und tiefer sank, ihr letztes Gold verschüttend. Lautlose Stille herrschte ringsum; nur hoch im lichten Azur des Abendhimmels kreis'te mit lang gedehntem Schrei ein Geier.
Plötzlich erklang in der Ferne ein wüster Männerchor. Die Emsige schrack auf. "Jesus, da sind sie schon", sagte sie halblaut zu sich selbst, "und ich habe die Jacke noch nicht fertig."
Immer näher, immer stärker scholl der Gesang, und es dauerte nicht lange, so kam eine Schaar verwildert aussehender Gesellen heran, aus deren Mitte, besser als die Andern geklei¬ det, ein Mann von herkulischem Wuchse empor ragte. Er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; sein breites, aufgedun¬ senes Gesicht war vom Weine geröthet und der Strohhut, der ihm tief im kurzen Genick saß, ließ graue, verworrene Haare sehen. Er hatte seinen Rock ausgezogen und über die linke Achsel geworfen; in der rechten Hand, die feist und stämmig aus dem losen Hemdärmel hervorsah, trug er einen großen Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den Uebrigen trugen schwere, mit Kartoffeln gefüllte Säcke auf
nahm ſie, ihrer unterbrochenen Arbeit ſich beſinnend, raſch wieder Nadel und Faden auf.
Der Ankömmling erwiederte nichts, ſondern ſchleppte ſich blos ein paar Schritte ſeitwärts, wo er ſich mit allen Zeichen der Erſchöpfung im Graſe niederließ. Dort lag er, während die Sonne tiefer und tiefer ſank, ihr letztes Gold verſchüttend. Lautloſe Stille herrſchte ringsum; nur hoch im lichten Azur des Abendhimmels kreiſ'te mit lang gedehntem Schrei ein Geier.
Plötzlich erklang in der Ferne ein wüſter Männerchor. Die Emſige ſchrack auf. „Jeſus, da ſind ſie ſchon“, ſagte ſie halblaut zu ſich ſelbſt, „und ich habe die Jacke noch nicht fertig.“
Immer näher, immer ſtärker ſcholl der Geſang, und es dauerte nicht lange, ſo kam eine Schaar verwildert ausſehender Geſellen heran, aus deren Mitte, beſſer als die Andern geklei¬ det, ein Mann von herkuliſchem Wuchſe empor ragte. Er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; ſein breites, aufgedun¬ ſenes Geſicht war vom Weine geröthet und der Strohhut, der ihm tief im kurzen Genick ſaß, ließ graue, verworrene Haare ſehen. Er hatte ſeinen Rock ausgezogen und über die linke Achſel geworfen; in der rechten Hand, die feiſt und ſtämmig aus dem loſen Hemdärmel hervorſah, trug er einen großen Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den Uebrigen trugen ſchwere, mit Kartoffeln gefüllte Säcke auf
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0148"n="132"/>
nahm ſie, ihrer unterbrochenen Arbeit ſich beſinnend, raſch<lb/>
wieder Nadel und Faden auf.</p><lb/><p>Der Ankömmling erwiederte nichts, ſondern ſchleppte ſich<lb/>
blos ein paar Schritte ſeitwärts, wo er ſich mit allen Zeichen<lb/>
der Erſchöpfung im Graſe niederließ. Dort lag er, während<lb/>
die Sonne tiefer und tiefer ſank, ihr letztes Gold verſchüttend.<lb/>
Lautloſe Stille herrſchte ringsum; nur hoch im lichten Azur<lb/>
des Abendhimmels kreiſ'te mit lang gedehntem Schrei ein<lb/>
Geier.</p><lb/><p>Plötzlich erklang in der Ferne ein wüſter Männerchor.<lb/>
Die Emſige ſchrack auf. „Jeſus, da ſind ſie ſchon“, ſagte<lb/>ſie halblaut zu ſich ſelbſt, „und ich habe die Jacke noch nicht<lb/>
fertig.“</p><lb/><p>Immer näher, immer ſtärker ſcholl der Geſang, und es<lb/>
dauerte nicht lange, ſo kam eine Schaar verwildert ausſehender<lb/>
Geſellen heran, aus deren Mitte, beſſer als die Andern geklei¬<lb/>
det, ein Mann von herkuliſchem Wuchſe empor ragte. Er<lb/>
mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; ſein breites, aufgedun¬<lb/>ſenes Geſicht war vom Weine geröthet und der Strohhut, der<lb/>
ihm tief im kurzen Genick ſaß, ließ graue, verworrene Haare<lb/>ſehen. Er hatte ſeinen Rock ausgezogen und über die linke<lb/>
Achſel geworfen; in der rechten Hand, die feiſt und ſtämmig<lb/>
aus dem loſen Hemdärmel hervorſah, trug er einen großen<lb/>
Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den<lb/>
Uebrigen trugen ſchwere, mit Kartoffeln gefüllte Säcke auf<lb/></p></div></body></text></TEI>
[132/0148]
nahm ſie, ihrer unterbrochenen Arbeit ſich beſinnend, raſch
wieder Nadel und Faden auf.
Der Ankömmling erwiederte nichts, ſondern ſchleppte ſich
blos ein paar Schritte ſeitwärts, wo er ſich mit allen Zeichen
der Erſchöpfung im Graſe niederließ. Dort lag er, während
die Sonne tiefer und tiefer ſank, ihr letztes Gold verſchüttend.
Lautloſe Stille herrſchte ringsum; nur hoch im lichten Azur
des Abendhimmels kreiſ'te mit lang gedehntem Schrei ein
Geier.
Plötzlich erklang in der Ferne ein wüſter Männerchor.
Die Emſige ſchrack auf. „Jeſus, da ſind ſie ſchon“, ſagte
ſie halblaut zu ſich ſelbſt, „und ich habe die Jacke noch nicht
fertig.“
Immer näher, immer ſtärker ſcholl der Geſang, und es
dauerte nicht lange, ſo kam eine Schaar verwildert ausſehender
Geſellen heran, aus deren Mitte, beſſer als die Andern geklei¬
det, ein Mann von herkuliſchem Wuchſe empor ragte. Er
mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; ſein breites, aufgedun¬
ſenes Geſicht war vom Weine geröthet und der Strohhut, der
ihm tief im kurzen Genick ſaß, ließ graue, verworrene Haare
ſehen. Er hatte ſeinen Rock ausgezogen und über die linke
Achſel geworfen; in der rechten Hand, die feiſt und ſtämmig
aus dem loſen Hemdärmel hervorſah, trug er einen großen
Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den
Uebrigen trugen ſchwere, mit Kartoffeln gefüllte Säcke auf
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/148>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.