Endlich sagte er: "Der Nachmittag ist schön. Lassen Sie uns zum letzten Male miteinander einen Gang nach der Stelle thun, wo wir uns kennen gelernt." So verließen wir das Haus und begaben uns langsam und nachdenklich auf die Bastei. Kahl und öde lag noch die Gegend da; aber einige frühblühende Obstbäume standen schon in ihrem weißen Schmucke, die Luft roch nach Veilchen und in geheimnißvoller Triebkraft schien die Erde leise zu beben. Hier und dort stieg von den braunen Feldern schmetternd eine Lerche empor.
Innocens deutete über die Brustwehr hinaus: "Welch' ein tiefer Gottesfriede liegt über der Gegend!" sagte er. "Sehen Sie nur dort das lässig schreitende Zwiegespann vor dem Pfluge und hintendrein den arbeitsfrohen Landmann! Und hier unten den schaukelnden Kahn und den Schiffer darin, der das Ruder weggelegt hat, weil ihn die glatte Fluth schnell und sicher zum Ziele trägt! Wahrlich, wenn man die Welt so vor sich sieht im Sonnenschein, und die harmlosen Thier- und Menschengestalten darauf, man sollte glauben, sie sei ein Eden, dessen heitere Ruhe niemals durch das wüste Geschrei kämpfender Schaaren wäre gestört, dessen Fluren niemals mit argvergossenem Blute wären getränkt worden."
"Und unter solchen Umständen", fuhr ich fort, "muß ich Italien kennen lernen! Es war seit jeher mein schönster Traum, dieses Land mit den heiligen Schauern, mit der ge¬ nießenden Freiheit und Ruhe eines fahrenden Schülers be¬
Saar, Novellen aus Oesterreich. 3
Endlich ſagte er: „Der Nachmittag iſt ſchön. Laſſen Sie uns zum letzten Male miteinander einen Gang nach der Stelle thun, wo wir uns kennen gelernt.“ So verließen wir das Haus und begaben uns langſam und nachdenklich auf die Baſtei. Kahl und öde lag noch die Gegend da; aber einige frühblühende Obſtbäume ſtanden ſchon in ihrem weißen Schmucke, die Luft roch nach Veilchen und in geheimnißvoller Triebkraft ſchien die Erde leiſe zu beben. Hier und dort ſtieg von den braunen Feldern ſchmetternd eine Lerche empor.
Innocens deutete über die Bruſtwehr hinaus: „Welch' ein tiefer Gottesfriede liegt über der Gegend!“ ſagte er. „Sehen Sie nur dort das läſſig ſchreitende Zwiegeſpann vor dem Pfluge und hintendrein den arbeitsfrohen Landmann! Und hier unten den ſchaukelnden Kahn und den Schiffer darin, der das Ruder weggelegt hat, weil ihn die glatte Fluth ſchnell und ſicher zum Ziele trägt! Wahrlich, wenn man die Welt ſo vor ſich ſieht im Sonnenſchein, und die harmloſen Thier- und Menſchengeſtalten darauf, man ſollte glauben, ſie ſei ein Eden, deſſen heitere Ruhe niemals durch das wüſte Geſchrei kämpfender Schaaren wäre geſtört, deſſen Fluren niemals mit argvergoſſenem Blute wären getränkt worden.“
„Und unter ſolchen Umſtänden“, fuhr ich fort, „muß ich Italien kennen lernen! Es war ſeit jeher mein ſchönſter Traum, dieſes Land mit den heiligen Schauern, mit der ge¬ nießenden Freiheit und Ruhe eines fahrenden Schülers be¬
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 3
<TEI><text><body><p><pbfacs="#f0049"n="33"/>
Endlich ſagte er: „Der Nachmittag iſt ſchön. Laſſen Sie uns<lb/>
zum letzten Male miteinander einen Gang nach der Stelle<lb/>
thun, wo wir uns kennen gelernt.“ So verließen wir das<lb/>
Haus und begaben uns langſam und nachdenklich auf die<lb/>
Baſtei. Kahl und öde lag noch die Gegend da; aber einige<lb/>
frühblühende Obſtbäume ſtanden ſchon in ihrem weißen<lb/>
Schmucke, die Luft roch nach Veilchen und in geheimnißvoller<lb/>
Triebkraft ſchien die Erde leiſe zu beben. Hier und dort ſtieg<lb/>
von den braunen Feldern ſchmetternd eine Lerche empor.</p><lb/><p>Innocens deutete über die Bruſtwehr hinaus: „Welch'<lb/>
ein tiefer Gottesfriede liegt über der Gegend!“ſagte er.<lb/>„Sehen Sie nur dort das läſſig ſchreitende Zwiegeſpann vor<lb/>
dem Pfluge und hintendrein den arbeitsfrohen Landmann!<lb/>
Und hier unten den ſchaukelnden Kahn und den Schiffer darin,<lb/>
der das Ruder weggelegt hat, weil ihn die glatte Fluth ſchnell<lb/>
und ſicher zum Ziele trägt! Wahrlich, wenn man die Welt<lb/>ſo vor ſich ſieht im Sonnenſchein, und die harmloſen Thier-<lb/>
und Menſchengeſtalten darauf, man ſollte glauben, ſie ſei ein<lb/>
Eden, deſſen heitere Ruhe niemals durch das wüſte Geſchrei<lb/>
kämpfender Schaaren wäre geſtört, deſſen Fluren niemals mit<lb/>
argvergoſſenem Blute wären getränkt worden.“</p><lb/><p>„Und unter ſolchen Umſtänden“, fuhr ich fort, „muß ich<lb/>
Italien kennen lernen! Es war ſeit jeher mein ſchönſter<lb/>
Traum, dieſes Land mit den heiligen Schauern, mit der ge¬<lb/>
nießenden Freiheit und Ruhe eines fahrenden Schülers be¬<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Saar</hi>, Novellen aus Oeſterreich. 3<lb/></fw></p></body></text></TEI>
[33/0049]
Endlich ſagte er: „Der Nachmittag iſt ſchön. Laſſen Sie uns
zum letzten Male miteinander einen Gang nach der Stelle
thun, wo wir uns kennen gelernt.“ So verließen wir das
Haus und begaben uns langſam und nachdenklich auf die
Baſtei. Kahl und öde lag noch die Gegend da; aber einige
frühblühende Obſtbäume ſtanden ſchon in ihrem weißen
Schmucke, die Luft roch nach Veilchen und in geheimnißvoller
Triebkraft ſchien die Erde leiſe zu beben. Hier und dort ſtieg
von den braunen Feldern ſchmetternd eine Lerche empor.
Innocens deutete über die Bruſtwehr hinaus: „Welch'
ein tiefer Gottesfriede liegt über der Gegend!“ ſagte er.
„Sehen Sie nur dort das läſſig ſchreitende Zwiegeſpann vor
dem Pfluge und hintendrein den arbeitsfrohen Landmann!
Und hier unten den ſchaukelnden Kahn und den Schiffer darin,
der das Ruder weggelegt hat, weil ihn die glatte Fluth ſchnell
und ſicher zum Ziele trägt! Wahrlich, wenn man die Welt
ſo vor ſich ſieht im Sonnenſchein, und die harmloſen Thier-
und Menſchengeſtalten darauf, man ſollte glauben, ſie ſei ein
Eden, deſſen heitere Ruhe niemals durch das wüſte Geſchrei
kämpfender Schaaren wäre geſtört, deſſen Fluren niemals mit
argvergoſſenem Blute wären getränkt worden.“
„Und unter ſolchen Umſtänden“, fuhr ich fort, „muß ich
Italien kennen lernen! Es war ſeit jeher mein ſchönſter
Traum, dieſes Land mit den heiligen Schauern, mit der ge¬
nießenden Freiheit und Ruhe eines fahrenden Schülers be¬
Saar, Novellen aus Oeſterreich. 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/49>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.