Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Scheingründe für den Selbstmord.
dir in's Herz gelegt hat, und sprach: harre
aus, bis ich komme.

Man sieht also, daß dieser unglückliche
Einfall der skeptischen Laune für den Selbst-
mord nichts beweise, oder zugleich alle Pflich-
ten gegen den Nächsten, und das gemeine
Wesen auflöse. Denn so wie der Schöpfer
das Leben der Menschen unzähligen Gefah-
ren, von dem Laufe der Naturbegebenhei-
ten, und wohl auch von den kleinsten, un-
geahndesten Veränderungen zerstöret zu wer-
den (um den Ausdruck des Skeptikers
beyzubehalten), überlassen hat: so hat er
auch die Glücksgüter der Menschen, den Flor
der Königreiche, und das ganze Quantum
zeitlicher Glückseligkeit diesen nämlichen Ge-
fahren überlassen.

Fer-
schenpuncte des menschlichen Lebens: das heißt
nun nicht, das Menschenleben den Gefahren
überlassen. Fürs zweyte ist das, was in
unsern Augen, aus Mangel der Einsicht in
die Reihe der Begebenheiten, Gefahr ist, im
allsehenden Auge Gottes keine Gefahr: so wie
was in Absicht auf unser Nichtvorherwissen
Zufall ist, in Hinsicht auf Gott nicht Zufall,
sondern Ordnung, Fügung, Feststel-
lung
ist.
G 2

Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
dir in’s Herz gelegt hat, und ſprach: harre
aus, bis ich komme.

Man ſieht alſo, daß dieſer ungluͤckliche
Einfall der ſkeptiſchen Laune fuͤr den Selbſt-
mord nichts beweiſe, oder zugleich alle Pflich-
ten gegen den Naͤchſten, und das gemeine
Weſen aufloͤſe. Denn ſo wie der Schoͤpfer
das Leben der Menſchen unzaͤhligen Gefah-
ren, von dem Laufe der Naturbegebenhei-
ten, und wohl auch von den kleinſten, un-
geahndeſten Veraͤnderungen zerſtoͤret zu wer-
den (um den Ausdruck des Skeptikers
beyzubehalten), uͤberlaſſen hat: ſo hat er
auch die Gluͤcksguͤter der Menſchen, den Flor
der Koͤnigreiche, und das ganze Quantum
zeitlicher Gluͤckſeligkeit dieſen naͤmlichen Ge-
fahren uͤberlaſſen.

Fer-
ſchenpuncte des menſchlichen Lebens: das heißt
nun nicht, das Menſchenleben den Gefahren
uͤberlaſſen. Fuͤrs zweyte iſt das, was in
unſern Augen, aus Mangel der Einſicht in
die Reihe der Begebenheiten, Gefahr iſt, im
allſehenden Auge Gottes keine Gefahr: ſo wie
was in Abſicht auf unſer Nichtvorherwiſſen
Zufall iſt, in Hinſicht auf Gott nicht Zufall,
ſondern Ordnung, Fuͤgung, Feſtſtel-
lung
iſt.
G 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0111" n="99"/><fw place="top" type="header">Scheingru&#x0364;nde fu&#x0364;r den Selb&#x017F;tmord.</fw><lb/>
dir in&#x2019;s Herz gelegt hat, und &#x017F;prach: <hi rendition="#fr">harre<lb/>
aus, bis ich komme.</hi></p><lb/>
          <p>Man &#x017F;ieht al&#x017F;o, daß die&#x017F;er unglu&#x0364;ckliche<lb/>
Einfall der &#x017F;kepti&#x017F;chen Laune fu&#x0364;r den Selb&#x017F;t-<lb/>
mord nichts bewei&#x017F;e, oder zugleich alle Pflich-<lb/>
ten gegen den Na&#x0364;ch&#x017F;ten, und das gemeine<lb/>
We&#x017F;en auflo&#x0364;&#x017F;e. Denn &#x017F;o wie der Scho&#x0364;pfer<lb/>
das Leben der Men&#x017F;chen unza&#x0364;hligen Gefah-<lb/>
ren, von dem Laufe der Naturbegebenhei-<lb/>
ten, und wohl auch von den klein&#x017F;ten, un-<lb/>
geahnde&#x017F;ten Vera&#x0364;nderungen zer&#x017F;to&#x0364;ret zu wer-<lb/>
den (um den Ausdruck des Skeptikers <note next="#seg3pn_7_3" xml:id="seg3pn_7_2" prev="#seg3pn_7_1" place="foot" n="(o)"/><lb/>
beyzubehalten), u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en hat: &#x017F;o hat er<lb/>
auch die Glu&#x0364;cksgu&#x0364;ter der Men&#x017F;chen, den Flor<lb/>
der Ko&#x0364;nigreiche, und das ganze Quantum<lb/>
zeitlicher Glu&#x0364;ck&#x017F;eligkeit die&#x017F;en na&#x0364;mlichen Ge-<lb/>
fahren <hi rendition="#fr">u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en.</hi></p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">G 2</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">Fer-</fw><lb/>
          <p>
            <note xml:id="seg3pn_7_3" prev="#seg3pn_7_2" place="foot" n="(o)">&#x017F;chenpuncte des men&#x017F;chlichen Lebens: das heißt<lb/>
nun nicht, das Men&#x017F;chenleben den Gefahren<lb/><hi rendition="#fr">u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en.</hi> Fu&#x0364;rs <hi rendition="#fr">zweyte</hi> i&#x017F;t das, was in<lb/>
un&#x017F;ern Augen, aus Mangel der Ein&#x017F;icht in<lb/>
die Reihe der Begebenheiten, Gefahr i&#x017F;t, im<lb/>
all&#x017F;ehenden Auge Gottes keine Gefahr: &#x017F;o wie<lb/>
was in Ab&#x017F;icht auf un&#x017F;er Nichtvorherwi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Zufall i&#x017F;t, in Hin&#x017F;icht auf Gott nicht Zufall,<lb/>
&#x017F;ondern <hi rendition="#fr">Ordnung, Fu&#x0364;gung, Fe&#x017F;t&#x017F;tel-<lb/>
lung</hi> i&#x017F;t.</note>
          </p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[99/0111] Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord. dir in’s Herz gelegt hat, und ſprach: harre aus, bis ich komme. Man ſieht alſo, daß dieſer ungluͤckliche Einfall der ſkeptiſchen Laune fuͤr den Selbſt- mord nichts beweiſe, oder zugleich alle Pflich- ten gegen den Naͤchſten, und das gemeine Weſen aufloͤſe. Denn ſo wie der Schoͤpfer das Leben der Menſchen unzaͤhligen Gefah- ren, von dem Laufe der Naturbegebenhei- ten, und wohl auch von den kleinſten, un- geahndeſten Veraͤnderungen zerſtoͤret zu wer- den (um den Ausdruck des Skeptikers (o) beyzubehalten), uͤberlaſſen hat: ſo hat er auch die Gluͤcksguͤter der Menſchen, den Flor der Koͤnigreiche, und das ganze Quantum zeitlicher Gluͤckſeligkeit dieſen naͤmlichen Ge- fahren uͤberlaſſen. Fer- (o) (o) (o) ſchenpuncte des menſchlichen Lebens: das heißt nun nicht, das Menſchenleben den Gefahren uͤberlaſſen. Fuͤrs zweyte iſt das, was in unſern Augen, aus Mangel der Einſicht in die Reihe der Begebenheiten, Gefahr iſt, im allſehenden Auge Gottes keine Gefahr: ſo wie was in Abſicht auf unſer Nichtvorherwiſſen Zufall iſt, in Hinſicht auf Gott nicht Zufall, ſondern Ordnung, Fuͤgung, Feſtſtel- lung iſt. G 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/111
Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/111>, abgerufen am 25.05.2024.