schwer ist es einen solchen zu beruhigen und vom Gegentheil zu überzeugen.
Ich habe selbst eine Person gekannt, die in diesen traurigen Zustand gerathen war, die alle Schmerzen, die sie erduldete, alle Widerwaertigkeiten, die ihr begegneten, auf Rechnung jener Verirrung schrieb, und mit Aengstlichkeit jeden Bissen genoss, weil sie glaubte, dass sie jeder Gottesgabe unwerth waere. Und ob sie gleich sich Mühe gab, diese Melancholie durch Gründe, die die Re- ligion darbietet, zu bekaempfen, so glichen ihre Nerven doch schlaffen Saiten, bey de- nen kein Ton anspricht, und der Gram, der an ihrem Herzen nagte, und ihr Mark aus- saugte, verzehrte sie endlich.
Sollte nicht die Hypochondrie, die in unsern Tagen so epidemisch ist, auch grossen- theils aus dieser unseligen Quelle entsprin- gen? Ferne sey von mir die Lieblosigkeit, alle Hypochondristen für solche zu halten,
die
(D 4)
ſchwer iſt es einen ſolchen zu beruhigen und vom Gegentheil zu überzeugen.
Ich habe ſelbſt eine Perſon gekannt, die in dieſen traurigen Zuſtand gerathen war, die alle Schmerzen, die ſie erduldete, alle Widerwærtigkeiten, die ihr begegneten, auf Rechnung jener Verirrung ſchrieb, und mit Aengſtlichkeit jeden Biſſen genoſs, weil ſie glaubte, daſs ſie jeder Gottesgabe unwerth wære. Und ob ſie gleich ſich Mühe gab, dieſe Melancholie durch Gründe, die die Re- ligion darbietet, zu bekæmpfen, ſo glichen ihre Nerven doch ſchlaffen Saiten, bey de- nen kein Ton anſpricht, und der Gram, der an ihrem Herzen nagte, und ihr Mark aus- ſaugte, verzehrte ſie endlich.
Sollte nicht die Hypochondrie, die in unſern Tagen ſo epidemiſch iſt, auch groſsen- theils aus dieſer unſeligen Quelle entſprin- gen? Ferne ſey von mir die Liebloſigkeit, alle Hypochondriſten für ſolche zu halten,
die
(D 4)
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0065"n="55"/>ſchwer iſt es einen ſolchen zu beruhigen und<lb/>
vom Gegentheil zu überzeugen.</p><lb/><p>Ich habe ſelbſt eine Perſon gekannt,<lb/>
die in dieſen traurigen Zuſtand gerathen<lb/>
war, die alle Schmerzen, die ſie erduldete,<lb/>
alle Widerwærtigkeiten, die ihr begegneten,<lb/>
auf Rechnung jener Verirrung ſchrieb, und<lb/>
mit Aengſtlichkeit jeden Biſſen genoſs, weil<lb/>ſie glaubte, daſs ſie jeder Gottesgabe unwerth<lb/>
wære. Und ob ſie gleich ſich Mühe gab,<lb/>
dieſe Melancholie durch Gründe, die die Re-<lb/>
ligion darbietet, zu bekæmpfen, ſo glichen<lb/>
ihre Nerven doch ſchlaffen Saiten, bey de-<lb/>
nen kein Ton anſpricht, und der Gram, der<lb/>
an ihrem Herzen nagte, und ihr Mark aus-<lb/>ſaugte, verzehrte ſie endlich.</p><lb/><p>Sollte nicht die Hypochondrie, die in<lb/>
unſern Tagen ſo epidemiſch iſt, auch groſsen-<lb/>
theils aus dieſer unſeligen Quelle entſprin-<lb/>
gen? Ferne ſey von mir die Liebloſigkeit,<lb/>
alle Hypochondriſten für ſolche zu halten,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">(D 4)</fw><fwplace="bottom"type="catch">die</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[55/0065]
ſchwer iſt es einen ſolchen zu beruhigen und
vom Gegentheil zu überzeugen.
Ich habe ſelbſt eine Perſon gekannt,
die in dieſen traurigen Zuſtand gerathen
war, die alle Schmerzen, die ſie erduldete,
alle Widerwærtigkeiten, die ihr begegneten,
auf Rechnung jener Verirrung ſchrieb, und
mit Aengſtlichkeit jeden Biſſen genoſs, weil
ſie glaubte, daſs ſie jeder Gottesgabe unwerth
wære. Und ob ſie gleich ſich Mühe gab,
dieſe Melancholie durch Gründe, die die Re-
ligion darbietet, zu bekæmpfen, ſo glichen
ihre Nerven doch ſchlaffen Saiten, bey de-
nen kein Ton anſpricht, und der Gram, der
an ihrem Herzen nagte, und ihr Mark aus-
ſaugte, verzehrte ſie endlich.
Sollte nicht die Hypochondrie, die in
unſern Tagen ſo epidemiſch iſt, auch groſsen-
theils aus dieſer unſeligen Quelle entſprin-
gen? Ferne ſey von mir die Liebloſigkeit,
alle Hypochondriſten für ſolche zu halten,
die
(D 4)
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Salzmann, Christian Gotthilf: Ueber die heimlichen Sünden der Jugend. Leipzig, 1785, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/salzmann_suenden_1785/65>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.