Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Gesetze. Wäre in Bologna das kritische Streben der Glossatorenzu einem abgeschlossenen Ziel gekommen, so würde die Reception dieser Vulgata die Stelle eines gesetzlichen Tex- tes vertreten, obgleich auch dadurch, wie so eben gezeigt worden ist, das Geschäft der höheren Kritik nicht ausge- schlossen wäre. Allein eine fertige Vulgata in diesem Sinn hat nie bestanden, und eine Reception derselben war also unmöglich (§ 17). Wir haben folglich Nichts vor uns als eine bedeutende Anzahl Handschriften, die an Alter und Werth sehr verschieden sind. Selbst die gänz- liche Übereinstimmung derselben in einer Leseart kann der gesetzlichen Mittheilung nur durch eine Art von Fiction gleichgestellt werden. In Wahrheit entsteht aus einer solchen Übereinstimmung doch nur ein höherer Grad von Wahrscheinlichkeit daß wir den ursprünglichen Text vor uns haben, keine Gewißheit. Neuere Schriftsteller haben befürchtet, es würde um alle Sicherheit der Praxis ge- schehen seyn, wenn man die Kritik walten ließe, und sie haben daher dieselbe entweder gänzlich verworfen, oder doch in willkührliche enge Gränzen eingeschlossen (c). Diese Ängstlichkeit will einen gegebenen Text gegen die Gefahr willkührlicher Abweichungen bewahren. Sie ist aber dadurch nichtig, daß das Gegebene, welches sie (c) Thibaut verwarf den
praktischen Gebrauch der Kritik gänzlich (Versuche Bd. 1 Num. 16), gab aber späterhin diese Meynung auf (Logische Ausle- gung § 44). -- Feuerbach will die freye Conjecturalkritik nur zulassen, um Unsinn oder Wi- derspruch auszurotten (civilisti- sche Versuche Th. 1 Num. 3). Eben so Glück I. § 35 Num. 5. Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze. Wäre in Bologna das kritiſche Streben der Gloſſatorenzu einem abgeſchloſſenen Ziel gekommen, ſo würde die Reception dieſer Vulgata die Stelle eines geſetzlichen Tex- tes vertreten, obgleich auch dadurch, wie ſo eben gezeigt worden iſt, das Geſchäft der höheren Kritik nicht ausge- ſchloſſen wäre. Allein eine fertige Vulgata in dieſem Sinn hat nie beſtanden, und eine Reception derſelben war alſo unmöglich (§ 17). Wir haben folglich Nichts vor uns als eine bedeutende Anzahl Handſchriften, die an Alter und Werth ſehr verſchieden ſind. Selbſt die gänz- liche Übereinſtimmung derſelben in einer Leſeart kann der geſetzlichen Mittheilung nur durch eine Art von Fiction gleichgeſtellt werden. In Wahrheit entſteht aus einer ſolchen Übereinſtimmung doch nur ein höherer Grad von Wahrſcheinlichkeit daß wir den urſprünglichen Text vor uns haben, keine Gewißheit. Neuere Schriftſteller haben befürchtet, es würde um alle Sicherheit der Praxis ge- ſchehen ſeyn, wenn man die Kritik walten ließe, und ſie haben daher dieſelbe entweder gänzlich verworfen, oder doch in willkührliche enge Gränzen eingeſchloſſen (c). Dieſe Ängſtlichkeit will einen gegebenen Text gegen die Gefahr willkührlicher Abweichungen bewahren. Sie iſt aber dadurch nichtig, daß das Gegebene, welches ſie (c) Thibaut verwarf den
praktiſchen Gebrauch der Kritik gänzlich (Verſuche Bd. 1 Num. 16), gab aber ſpäterhin dieſe Meynung auf (Logiſche Ausle- gung § 44). — Feuerbach will die freye Conjecturalkritik nur zulaſſen, um Unſinn oder Wi- derſpruch auszurotten (civiliſti- ſche Verſuche Th. 1 Num. 3). Eben ſo Glück I. § 35 Num. 5. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0300" n="244"/><fw place="top" type="header">Buch <hi rendition="#aq">I.</hi> Quellen. Kap. <hi rendition="#aq">IV.</hi> Auslegung der Geſetze.</fw><lb/> Wäre in Bologna das kritiſche Streben der Gloſſatoren<lb/> zu einem abgeſchloſſenen Ziel gekommen, ſo würde die<lb/> Reception dieſer Vulgata die Stelle eines geſetzlichen Tex-<lb/> tes vertreten, obgleich auch dadurch, wie ſo eben gezeigt<lb/> worden iſt, das Geſchäft der höheren Kritik nicht ausge-<lb/> ſchloſſen wäre. Allein eine fertige Vulgata in dieſem<lb/> Sinn hat nie beſtanden, und eine Reception derſelben war<lb/> alſo unmöglich (§ 17). Wir haben folglich Nichts vor<lb/> uns als eine bedeutende Anzahl Handſchriften, die an<lb/> Alter und Werth ſehr verſchieden ſind. Selbſt die gänz-<lb/> liche Übereinſtimmung derſelben in einer Leſeart kann der<lb/> geſetzlichen Mittheilung nur durch eine Art von Fiction<lb/> gleichgeſtellt werden. In Wahrheit entſteht aus einer<lb/> ſolchen Übereinſtimmung doch nur ein höherer Grad von<lb/> Wahrſcheinlichkeit daß wir den urſprünglichen Text vor<lb/> uns haben, keine Gewißheit. Neuere Schriftſteller haben<lb/> befürchtet, es würde um alle Sicherheit der Praxis ge-<lb/> ſchehen ſeyn, wenn man die Kritik walten ließe, und ſie<lb/> haben daher dieſelbe entweder gänzlich verworfen, oder<lb/> doch in willkührliche enge Gränzen eingeſchloſſen <note place="foot" n="(c)"><hi rendition="#g">Thibaut</hi> verwarf den<lb/> praktiſchen Gebrauch der Kritik<lb/> gänzlich (Verſuche Bd. 1 Num.<lb/> 16), gab aber ſpäterhin dieſe<lb/> Meynung auf (Logiſche Ausle-<lb/> gung § 44). — <hi rendition="#g">Feuerbach</hi> will<lb/> die freye Conjecturalkritik nur<lb/> zulaſſen, um Unſinn oder Wi-<lb/> derſpruch auszurotten (civiliſti-<lb/> ſche Verſuche Th. 1 Num. 3).<lb/> Eben ſo <hi rendition="#g">Glück</hi> <hi rendition="#aq">I.</hi> § 35 Num. 5.</note>.<lb/> Dieſe Ängſtlichkeit will einen gegebenen Text gegen die<lb/> Gefahr willkührlicher Abweichungen bewahren. Sie iſt<lb/> aber dadurch nichtig, daß das Gegebene, welches ſie<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [244/0300]
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Wäre in Bologna das kritiſche Streben der Gloſſatoren
zu einem abgeſchloſſenen Ziel gekommen, ſo würde die
Reception dieſer Vulgata die Stelle eines geſetzlichen Tex-
tes vertreten, obgleich auch dadurch, wie ſo eben gezeigt
worden iſt, das Geſchäft der höheren Kritik nicht ausge-
ſchloſſen wäre. Allein eine fertige Vulgata in dieſem
Sinn hat nie beſtanden, und eine Reception derſelben war
alſo unmöglich (§ 17). Wir haben folglich Nichts vor
uns als eine bedeutende Anzahl Handſchriften, die an
Alter und Werth ſehr verſchieden ſind. Selbſt die gänz-
liche Übereinſtimmung derſelben in einer Leſeart kann der
geſetzlichen Mittheilung nur durch eine Art von Fiction
gleichgeſtellt werden. In Wahrheit entſteht aus einer
ſolchen Übereinſtimmung doch nur ein höherer Grad von
Wahrſcheinlichkeit daß wir den urſprünglichen Text vor
uns haben, keine Gewißheit. Neuere Schriftſteller haben
befürchtet, es würde um alle Sicherheit der Praxis ge-
ſchehen ſeyn, wenn man die Kritik walten ließe, und ſie
haben daher dieſelbe entweder gänzlich verworfen, oder
doch in willkührliche enge Gränzen eingeſchloſſen (c).
Dieſe Ängſtlichkeit will einen gegebenen Text gegen die
Gefahr willkührlicher Abweichungen bewahren. Sie iſt
aber dadurch nichtig, daß das Gegebene, welches ſie
(c) Thibaut verwarf den
praktiſchen Gebrauch der Kritik
gänzlich (Verſuche Bd. 1 Num.
16), gab aber ſpäterhin dieſe
Meynung auf (Logiſche Ausle-
gung § 44). — Feuerbach will
die freye Conjecturalkritik nur
zulaſſen, um Unſinn oder Wi-
derſpruch auszurotten (civiliſti-
ſche Verſuche Th. 1 Num. 3).
Eben ſo Glück I. § 35 Num. 5.
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