Buch II. Rechtsverhältnisse. Kap. I. Wesen und Arten.
Germanische Leibeigenschaft die Stelle desselben völlig ein- nahm. So ist es durch diese in Italien und Frankreich verdrängt, im größeren Theil von Deutschland aber nie- mals mit dem Römischen Recht aufgenommen worden. Demnach sind von allen jenen Instituten im heutigen Recht nur noch folgende übrig geblieben: Ehe, väterliche Gewalt, Verwandtschaft, Vormundschaft.
Dagegen sind vom Mittelalter her gar manche Rechts- institute auf dem Boden des Germanischen Rechts neu ent- standen, in welchen, eben so wie in den schon bey den Römern vorhandenen Familienverhältnissen, ein sittliches Element als vorzugsweise einflußreich anerkannt werden muß, und die theils in das Familienrecht, theils in das Staatsrecht, wenigstens theilweise aufzunehmen sind, wenn ihre Natur richtig aufgefaßt werden soll. Dahin gehört das ganze Lehenverhältniß, die höchst mannichfaltigen gutsherrlich- bäuerlichen Verhältnisse, und insbesondere die schon er- wähnte Germanische Leibeigenschaft. Wir müssen also ver- meiden, die Gränzen des Familienrechts für alle Zeiten und Völker feststellen zu wollen, und vielmehr die Mög- lichkeit freyer Entwicklung für jedes positive Recht aner- kennen. -- Auf besonders merkwürdige Weise zeigt sich diese fortgehende Rechtsentwicklung in einem der verbrei- tetsten Verhältnisse unsers heutigen Zustandes, dem Dienst- botenrecht. Vom Standpunkt des Römischen Rechts aus läßt sich dasselbe nur als ein Contract (operae locatae) auffassen, und für die Römer war diese beschränkte Be-
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
Germaniſche Leibeigenſchaft die Stelle deſſelben völlig ein- nahm. So iſt es durch dieſe in Italien und Frankreich verdrängt, im größeren Theil von Deutſchland aber nie- mals mit dem Römiſchen Recht aufgenommen worden. Demnach ſind von allen jenen Inſtituten im heutigen Recht nur noch folgende übrig geblieben: Ehe, väterliche Gewalt, Verwandtſchaft, Vormundſchaft.
Dagegen ſind vom Mittelalter her gar manche Rechts- inſtitute auf dem Boden des Germaniſchen Rechts neu ent- ſtanden, in welchen, eben ſo wie in den ſchon bey den Römern vorhandenen Familienverhältniſſen, ein ſittliches Element als vorzugsweiſe einflußreich anerkannt werden muß, und die theils in das Familienrecht, theils in das Staatsrecht, wenigſtens theilweiſe aufzunehmen ſind, wenn ihre Natur richtig aufgefaßt werden ſoll. Dahin gehört das ganze Lehenverhältniß, die höchſt mannichfaltigen gutsherrlich- bäuerlichen Verhältniſſe, und insbeſondere die ſchon er- wähnte Germaniſche Leibeigenſchaft. Wir müſſen alſo ver- meiden, die Gränzen des Familienrechts für alle Zeiten und Völker feſtſtellen zu wollen, und vielmehr die Mög- lichkeit freyer Entwicklung für jedes poſitive Recht aner- kennen. — Auf beſonders merkwürdige Weiſe zeigt ſich dieſe fortgehende Rechtsentwicklung in einem der verbrei- tetſten Verhältniſſe unſers heutigen Zuſtandes, dem Dienſt- botenrecht. Vom Standpunkt des Römiſchen Rechts aus läßt ſich daſſelbe nur als ein Contract (operae locatae) auffaſſen, und für die Römer war dieſe beſchränkte Be-
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
Germaniſche Leibeigenſchaft die Stelle deſſelben völlig ein-
nahm. So iſt es durch dieſe in Italien und Frankreich
verdrängt, im größeren Theil von Deutſchland aber nie-
mals mit dem Römiſchen Recht aufgenommen worden.
Demnach ſind von allen jenen Inſtituten im heutigen Recht
nur noch folgende übrig geblieben: Ehe, väterliche Gewalt,
Verwandtſchaft, Vormundſchaft.
Dagegen ſind vom Mittelalter her gar manche Rechts-
inſtitute auf dem Boden des Germaniſchen Rechts neu ent-
ſtanden, in welchen, eben ſo wie in den ſchon bey den Römern
vorhandenen Familienverhältniſſen, ein ſittliches Element
als vorzugsweiſe einflußreich anerkannt werden muß, und
die theils in das Familienrecht, theils in das Staatsrecht,
wenigſtens theilweiſe aufzunehmen ſind, wenn ihre Natur
richtig aufgefaßt werden ſoll. Dahin gehört das ganze
Lehenverhältniß, die höchſt mannichfaltigen gutsherrlich-
bäuerlichen Verhältniſſe, und insbeſondere die ſchon er-
wähnte Germaniſche Leibeigenſchaft. Wir müſſen alſo ver-
meiden, die Gränzen des Familienrechts für alle Zeiten
und Völker feſtſtellen zu wollen, und vielmehr die Mög-
lichkeit freyer Entwicklung für jedes poſitive Recht aner-
kennen. — Auf beſonders merkwürdige Weiſe zeigt ſich
dieſe fortgehende Rechtsentwicklung in einem der verbrei-
tetſten Verhältniſſe unſers heutigen Zuſtandes, dem Dienſt-
botenrecht. Vom Standpunkt des Römiſchen Rechts aus
läßt ſich daſſelbe nur als ein Contract (operae locatae)
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/422>, abgerufen am 26.11.2024.
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