Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 2. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 83. Infamie. Heutige Anwendbarkeit.
Aber auch in dieser großen Einschränkung kann ich irgend
eine Anwendung der Römischen Infamie aus den oben
entwickelten Gründen nicht zugeben. Was sich davon ein-
räumen läßt, ist Folgendes.

Unter dem Einfluß Germanischer Ansichten haben sich
vom Mittelalter her in verschiedenen Ländern ziemlich
gleichförmige Regeln über Ehre und Ehrlosigkeit ausge-
bildet, die theilweise auch die Natur von Rechtsinstituten
angenommen haben, vorzüglich in Beziehung auf die mög-
liche Theilnahme an Corporationen verschiedener Art.
Solche Rechtsregeln sind theils durch eigentliche Gesetze,
theils durch Gewohnheitsrecht, besonders aber durch die
Statuten und Observanzen solcher Corporationen selbst,
festgestellt worden. Auf diese Feststellung nun, woran
meist Rechtsgelehrte Antheil nahmen, haben nicht selten
die (mehr oder weniger misverstandenen) Bestimmungen
des R. R. Einfluß gehabt.

Ein solcher indirecter Einfluß des R. R. auf das heu-
tige Recht der Infamie läßt sich nicht verkennen; er grün-
det sich jedoch nur auf Misverständnisse über die oben
dargestellte wahre Natur dieses Rechtsinstituts, und er ist
überdem nie von großer Erheblichkeit gewesen. In das

heren; ferner die Ehe des Vor-
mundes oder des Sohnes dessel-
ben mit der Mündel vor der ge-
setzlichen Zeit (§ 77. o). Beide
Fälle lassen sich denken als ganz
arglose Übertretungen blos for-
meller Vorschriften bey augen-
scheinlicher Unschuld in der Sache
selbst. Kein Rechtsinstitut aber
kann so wenig, als das der In-
famie, einen schneidenden Wider-
spruch mit der öffentlichen Mey-
nung vertragen.

§. 83. Infamie. Heutige Anwendbarkeit.
Aber auch in dieſer großen Einſchränkung kann ich irgend
eine Anwendung der Römiſchen Infamie aus den oben
entwickelten Gründen nicht zugeben. Was ſich davon ein-
räumen läßt, iſt Folgendes.

Unter dem Einfluß Germaniſcher Anſichten haben ſich
vom Mittelalter her in verſchiedenen Ländern ziemlich
gleichförmige Regeln uͤber Ehre und Ehrloſigkeit ausge-
bildet, die theilweiſe auch die Natur von Rechtsinſtituten
angenommen haben, vorzüglich in Beziehung auf die mög-
liche Theilnahme an Corporationen verſchiedener Art.
Solche Rechtsregeln ſind theils durch eigentliche Geſetze,
theils durch Gewohnheitsrecht, beſonders aber durch die
Statuten und Obſervanzen ſolcher Corporationen ſelbſt,
feſtgeſtellt worden. Auf dieſe Feſtſtellung nun, woran
meiſt Rechtsgelehrte Antheil nahmen, haben nicht ſelten
die (mehr oder weniger misverſtandenen) Beſtimmungen
des R. R. Einfluß gehabt.

Ein ſolcher indirecter Einfluß des R. R. auf das heu-
tige Recht der Infamie läßt ſich nicht verkennen; er grün-
det ſich jedoch nur auf Misverſtändniſſe über die oben
dargeſtellte wahre Natur dieſes Rechtsinſtituts, und er iſt
überdem nie von großer Erheblichkeit geweſen. In das

heren; ferner die Ehe des Vor-
mundes oder des Sohnes deſſel-
ben mit der Mündel vor der ge-
ſetzlichen Zeit (§ 77. o). Beide
Fälle laſſen ſich denken als ganz
argloſe Übertretungen blos for-
meller Vorſchriften bey augen-
ſcheinlicher Unſchuld in der Sache
ſelbſt. Kein Rechtsinſtitut aber
kann ſo wenig, als das der In-
famie, einen ſchneidenden Wider-
ſpruch mit der öffentlichen Mey-
nung vertragen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0243" n="229"/><fw place="top" type="header">§. 83. Infamie. Heutige Anwendbarkeit.</fw><lb/>
Aber auch in die&#x017F;er großen Ein&#x017F;chränkung kann ich irgend<lb/>
eine Anwendung der Römi&#x017F;chen Infamie aus den oben<lb/>
entwickelten Gründen nicht zugeben. Was &#x017F;ich davon ein-<lb/>
räumen läßt, i&#x017F;t Folgendes.</p><lb/>
            <p>Unter dem Einfluß Germani&#x017F;cher An&#x017F;ichten haben &#x017F;ich<lb/>
vom Mittelalter her in ver&#x017F;chiedenen Ländern ziemlich<lb/>
gleichförmige Regeln u&#x0364;ber Ehre und Ehrlo&#x017F;igkeit ausge-<lb/>
bildet, die theilwei&#x017F;e auch die Natur von Rechtsin&#x017F;tituten<lb/>
angenommen haben, vorzüglich in Beziehung auf die mög-<lb/>
liche Theilnahme an Corporationen ver&#x017F;chiedener Art.<lb/>
Solche Rechtsregeln &#x017F;ind theils durch eigentliche Ge&#x017F;etze,<lb/>
theils durch Gewohnheitsrecht, be&#x017F;onders aber durch die<lb/>
Statuten und Ob&#x017F;ervanzen &#x017F;olcher Corporationen &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
fe&#x017F;tge&#x017F;tellt worden. Auf die&#x017F;e Fe&#x017F;t&#x017F;tellung nun, woran<lb/>
mei&#x017F;t Rechtsgelehrte Antheil nahmen, haben nicht &#x017F;elten<lb/>
die (mehr oder weniger misver&#x017F;tandenen) Be&#x017F;timmungen<lb/>
des R. R. Einfluß gehabt.</p><lb/>
            <p>Ein &#x017F;olcher indirecter Einfluß des R. R. auf das heu-<lb/>
tige Recht der Infamie läßt &#x017F;ich nicht verkennen; er grün-<lb/>
det &#x017F;ich jedoch nur auf Misver&#x017F;tändni&#x017F;&#x017F;e über die oben<lb/>
darge&#x017F;tellte wahre Natur die&#x017F;es Rechtsin&#x017F;tituts, und er i&#x017F;t<lb/>
überdem nie von großer Erheblichkeit gewe&#x017F;en. In das<lb/><note xml:id="seg2pn_45_2" prev="#seg2pn_45_1" place="foot" n="(g)">heren; ferner die Ehe des Vor-<lb/>
mundes oder des Sohnes de&#x017F;&#x017F;el-<lb/>
ben mit der Mündel vor der ge-<lb/>
&#x017F;etzlichen Zeit (§ 77. <hi rendition="#aq">o</hi>). Beide<lb/>
Fälle la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich denken als ganz<lb/>
arglo&#x017F;e Übertretungen blos for-<lb/>
meller Vor&#x017F;chriften bey augen-<lb/>
&#x017F;cheinlicher Un&#x017F;chuld in der Sache<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t. Kein Rechtsin&#x017F;titut aber<lb/>
kann &#x017F;o wenig, als das der In-<lb/>
famie, einen &#x017F;chneidenden Wider-<lb/>
&#x017F;pruch mit der öffentlichen Mey-<lb/>
nung vertragen.</note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[229/0243] §. 83. Infamie. Heutige Anwendbarkeit. Aber auch in dieſer großen Einſchränkung kann ich irgend eine Anwendung der Römiſchen Infamie aus den oben entwickelten Gründen nicht zugeben. Was ſich davon ein- räumen läßt, iſt Folgendes. Unter dem Einfluß Germaniſcher Anſichten haben ſich vom Mittelalter her in verſchiedenen Ländern ziemlich gleichförmige Regeln uͤber Ehre und Ehrloſigkeit ausge- bildet, die theilweiſe auch die Natur von Rechtsinſtituten angenommen haben, vorzüglich in Beziehung auf die mög- liche Theilnahme an Corporationen verſchiedener Art. Solche Rechtsregeln ſind theils durch eigentliche Geſetze, theils durch Gewohnheitsrecht, beſonders aber durch die Statuten und Obſervanzen ſolcher Corporationen ſelbſt, feſtgeſtellt worden. Auf dieſe Feſtſtellung nun, woran meiſt Rechtsgelehrte Antheil nahmen, haben nicht ſelten die (mehr oder weniger misverſtandenen) Beſtimmungen des R. R. Einfluß gehabt. Ein ſolcher indirecter Einfluß des R. R. auf das heu- tige Recht der Infamie läßt ſich nicht verkennen; er grün- det ſich jedoch nur auf Misverſtändniſſe über die oben dargeſtellte wahre Natur dieſes Rechtsinſtituts, und er iſt überdem nie von großer Erheblichkeit geweſen. In das (g) (g) heren; ferner die Ehe des Vor- mundes oder des Sohnes deſſel- ben mit der Mündel vor der ge- ſetzlichen Zeit (§ 77. o). Beide Fälle laſſen ſich denken als ganz argloſe Übertretungen blos for- meller Vorſchriften bey augen- ſcheinlicher Unſchuld in der Sache ſelbſt. Kein Rechtsinſtitut aber kann ſo wenig, als das der In- famie, einen ſchneidenden Wider- ſpruch mit der öffentlichen Mey- nung vertragen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840/243
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 2. Berlin, 1840, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840/243>, abgerufen am 21.11.2024.