Es ist einleuchtend, daß mit dieser, dem rechtskräftigen Urtheil beigelegten Fiction der Wahrheit eine sehr starke Rückwirkung der bloßen Prozeßhandlung auf die Rechte selbst verbunden ist. Denn durch diese Fiction kann es geschehen, daß ein vorher nicht vorhandenes Recht neu erzeugt, oder daß ein vorhandenes Recht zerstört, vermindert, oder in seinem Inhalt verändert wird.
Der praktische Werth dieses Rechtsinstituts bedarf noch einer kleinen Erläuterung. Auf den ersten Blick könnte man glauben, die Rechtskraft sey wichtig bei ungerechten Urtheilen, durch welche das vorhandene Rechtsverhältniß in sein Gegentheil verkehrt wird, unwichtig bei gerechten, durch welche nur dasjenige bestätigt wird, welches ohnehin und ohne Rechtskraft wahr ist. Wäre dem also, so müßte man die Abschaffung des ganzen Instituts wünschen; es verhält sich aber in der That ganz anders. Zwar ist allerdings die Einwirkung der Rechtskraft besonders stark und auffallend in dem unglücklichen Fall eines ungerechten Urtheils, für welchen Fall es gewiß nicht eingeführt ist, und dessen Möglichkeit wir nur mit hinnehmen müssen als ein unvermeidliches Übel; aber wichtig und heilsam ist die Rechts- kraft auch im Fall des gerechten Urtheils, dessen Befesti- gung eben ihren ganzen Zweck ausmacht. Wenn man erwägt, wie viele Rechtsverhältnisse an sich schwankend und zweifelhaft sind, wie oft es geschieht, daß ein jetzt vorhandenes Beweismittel späterhin fehlt, daß ein späterer Richter irren kann, wo der gegenwärtige richtig urtheilte
§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.
Es iſt einleuchtend, daß mit dieſer, dem rechtskräftigen Urtheil beigelegten Fiction der Wahrheit eine ſehr ſtarke Rückwirkung der bloßen Prozeßhandlung auf die Rechte ſelbſt verbunden iſt. Denn durch dieſe Fiction kann es geſchehen, daß ein vorher nicht vorhandenes Recht neu erzeugt, oder daß ein vorhandenes Recht zerſtört, vermindert, oder in ſeinem Inhalt verändert wird.
Der praktiſche Werth dieſes Rechtsinſtituts bedarf noch einer kleinen Erläuterung. Auf den erſten Blick könnte man glauben, die Rechtskraft ſey wichtig bei ungerechten Urtheilen, durch welche das vorhandene Rechtsverhältniß in ſein Gegentheil verkehrt wird, unwichtig bei gerechten, durch welche nur dasjenige beſtätigt wird, welches ohnehin und ohne Rechtskraft wahr iſt. Wäre dem alſo, ſo müßte man die Abſchaffung des ganzen Inſtituts wünſchen; es verhält ſich aber in der That ganz anders. Zwar iſt allerdings die Einwirkung der Rechtskraft beſonders ſtark und auffallend in dem unglücklichen Fall eines ungerechten Urtheils, für welchen Fall es gewiß nicht eingeführt iſt, und deſſen Möglichkeit wir nur mit hinnehmen müſſen als ein unvermeidliches Übel; aber wichtig und heilſam iſt die Rechts- kraft auch im Fall des gerechten Urtheils, deſſen Befeſti- gung eben ihren ganzen Zweck ausmacht. Wenn man erwägt, wie viele Rechtsverhältniſſe an ſich ſchwankend und zweifelhaft ſind, wie oft es geſchieht, daß ein jetzt vorhandenes Beweismittel ſpäterhin fehlt, daß ein ſpäterer Richter irren kann, wo der gegenwärtige richtig urtheilte
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§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.
Es iſt einleuchtend, daß mit dieſer, dem rechtskräftigen
Urtheil beigelegten Fiction der Wahrheit eine ſehr ſtarke
Rückwirkung der bloßen Prozeßhandlung auf die Rechte
ſelbſt verbunden iſt. Denn durch dieſe Fiction kann es
geſchehen, daß ein vorher nicht vorhandenes Recht neu
erzeugt, oder daß ein vorhandenes Recht zerſtört, vermindert,
oder in ſeinem Inhalt verändert wird.
Der praktiſche Werth dieſes Rechtsinſtituts bedarf noch
einer kleinen Erläuterung. Auf den erſten Blick könnte
man glauben, die Rechtskraft ſey wichtig bei ungerechten
Urtheilen, durch welche das vorhandene Rechtsverhältniß in
ſein Gegentheil verkehrt wird, unwichtig bei gerechten,
durch welche nur dasjenige beſtätigt wird, welches ohnehin
und ohne Rechtskraft wahr iſt. Wäre dem alſo, ſo müßte
man die Abſchaffung des ganzen Inſtituts wünſchen; es
verhält ſich aber in der That ganz anders. Zwar iſt
allerdings die Einwirkung der Rechtskraft beſonders ſtark
und auffallend in dem unglücklichen Fall eines ungerechten
Urtheils, für welchen Fall es gewiß nicht eingeführt iſt,
und deſſen Möglichkeit wir nur mit hinnehmen müſſen als ein
unvermeidliches Übel; aber wichtig und heilſam iſt die Rechts-
kraft auch im Fall des gerechten Urtheils, deſſen Befeſti-
gung eben ihren ganzen Zweck ausmacht. Wenn man
erwägt, wie viele Rechtsverhältniſſe an ſich ſchwankend
und zweifelhaft ſind, wie oft es geſchieht, daß ein jetzt
vorhandenes Beweismittel ſpäterhin fehlt, daß ein ſpäterer
Richter irren kann, wo der gegenwärtige richtig urtheilte
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 6. Berlin, 1847, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system06_1847/281>, abgerufen am 22.11.2024.
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