Buch III. Herrschaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Die erste Formel lautete so:
Neuen Gesetzen ist keine rückwirkende Kraft beizulegen.
Zunächst ist die wahre Bedeutung der Rückwirkung aufzusuchen, die durch diese Formel abgewiesen wer- den soll.
Es ist augenscheinlich, daß dieselbe nicht in einem buch- stäblichen, materiellen Sinn aufzufassen ist. Dieser Sinn würde dahin gehen, daß das Geschehene ungeschehen ge- macht werden solle. Da nun Dieses an sich unmöglich ist, so bedarf es keiner Rechtsregel, um es zu verhindern. -- Vielmehr ist also die Rückwirkung in einem juristischen oder formellen Sinn aufzufassen, wodurch sie die Bedeu- tung erhält, daß das rückwirkende Gesetz die Folgen der vergangenen juristischen Thatsachen unter seine Herrschaft ziehen, also auf diese Folgen einwirken würde. Eine solche Rückwirkung aber auf die Folgen der vergangenen That- sachen läßt sich noch in folgender Abstufung denken:
A. Auf die Folgen allein, die von der Zeit des neuen Gesetzes künftig eintreten würden.
B. Auf diese Folgen, und zugleich auf die, welche in die Zwischenzeit zwischen der juristischen Thatsache und dem neuen Gesetze fallen.
Zwei Beispiele werden diese Rückwirkung anschaulich machen. -- Wenn in einem Lande, das den Zinsvertrag ohne Einschränkung zuläßt, ein Gelddarlehen zu zehn Pro- zent Zinsen gegeben wird, nach drei Jahren aber wird das
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Die erſte Formel lautete ſo:
Neuen Geſetzen iſt keine rückwirkende Kraft beizulegen.
Zunächſt iſt die wahre Bedeutung der Rückwirkung aufzuſuchen, die durch dieſe Formel abgewieſen wer- den ſoll.
Es iſt augenſcheinlich, daß dieſelbe nicht in einem buch- ſtäblichen, materiellen Sinn aufzufaſſen iſt. Dieſer Sinn würde dahin gehen, daß das Geſchehene ungeſchehen ge- macht werden ſolle. Da nun Dieſes an ſich unmöglich iſt, ſo bedarf es keiner Rechtsregel, um es zu verhindern. — Vielmehr iſt alſo die Rückwirkung in einem juriſtiſchen oder formellen Sinn aufzufaſſen, wodurch ſie die Bedeu- tung erhält, daß das rückwirkende Geſetz die Folgen der vergangenen juriſtiſchen Thatſachen unter ſeine Herrſchaft ziehen, alſo auf dieſe Folgen einwirken würde. Eine ſolche Rückwirkung aber auf die Folgen der vergangenen That- ſachen läßt ſich noch in folgender Abſtufung denken:
A. Auf die Folgen allein, die von der Zeit des neuen Geſetzes künftig eintreten würden.
B. Auf dieſe Folgen, und zugleich auf die, welche in die Zwiſchenzeit zwiſchen der juriſtiſchen Thatſache und dem neuen Geſetze fallen.
Zwei Beiſpiele werden dieſe Rückwirkung anſchaulich machen. — Wenn in einem Lande, das den Zinsvertrag ohne Einſchränkung zuläßt, ein Gelddarlehen zu zehn Pro- zent Zinſen gegeben wird, nach drei Jahren aber wird das
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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Die erſte Formel lautete ſo:
Neuen Geſetzen iſt keine rückwirkende Kraft
beizulegen.
Zunächſt iſt die wahre Bedeutung der Rückwirkung
aufzuſuchen, die durch dieſe Formel abgewieſen wer-
den ſoll.
Es iſt augenſcheinlich, daß dieſelbe nicht in einem buch-
ſtäblichen, materiellen Sinn aufzufaſſen iſt. Dieſer Sinn
würde dahin gehen, daß das Geſchehene ungeſchehen ge-
macht werden ſolle. Da nun Dieſes an ſich unmöglich iſt,
ſo bedarf es keiner Rechtsregel, um es zu verhindern. —
Vielmehr iſt alſo die Rückwirkung in einem juriſtiſchen
oder formellen Sinn aufzufaſſen, wodurch ſie die Bedeu-
tung erhält, daß das rückwirkende Geſetz die Folgen der
vergangenen juriſtiſchen Thatſachen unter ſeine Herrſchaft
ziehen, alſo auf dieſe Folgen einwirken würde. Eine ſolche
Rückwirkung aber auf die Folgen der vergangenen That-
ſachen läßt ſich noch in folgender Abſtufung denken:
A. Auf die Folgen allein, die von der Zeit des neuen
Geſetzes künftig eintreten würden.
B. Auf dieſe Folgen, und zugleich auf die, welche in
die Zwiſchenzeit zwiſchen der juriſtiſchen Thatſache und dem
neuen Geſetze fallen.
Zwei Beiſpiele werden dieſe Rückwirkung anſchaulich
machen. — Wenn in einem Lande, das den Zinsvertrag
ohne Einſchränkung zuläßt, ein Gelddarlehen zu zehn Pro-
zent Zinſen gegeben wird, nach drei Jahren aber wird das
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 8. Berlin, 1849, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system08_1849/404>, abgerufen am 22.11.2024.
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