Möglichkeiten, das wirkliche Uebel zu vergrößern, und was nicht da ist, zu schaffen. Es ist nicht allein der gegenwärtige Schlag des Schicksals, der das Herz des Leidenden verwundet; die größten Schmerzen machen ihm die Angst, die Furcht und die Sorge wegen der Folgen des itzigen Lei- dens. Was wird aus mir werden, wie wird es mir ergehen? Das ist die gewöhnliche Sprache. Und wenn auch die Zahl der Freuden die des Lei- dens sehr weit überstiege, jene werden nicht wahrgenommen vor diesen, welche sich in Schaa- ren vor die Seele drängen, und ihr den Blick ins Freye und Heitere benehmen. Der Mensch sieht gewöhnlich die Dinge, wovon er umgeben ist, durch das aus der itzigen Stimmung seiner Seele gefärbte Glas der Phantasie an; darum scheint ihm in den Stunden des Kummers der ganze Himmel in Wolken gehüllt zu seyn, und die Erde den Zorn des Himmels zu fühlen. Wer hat sich wohl nicht oft selbst schon gestraft, wenn der Sturm des Leidens vorüber und das Herz in Ru- he war, daß er sich von eitlen Phantasien quälen ließ, die wie die Vögel der Nacht nur so lange um das Herz schwärmen, als die Vernunft ver- hindert wird, dasselbe mit ihren wohlthätigen Strahlen zu erleuchten?
Wie oft thut die Einbildungskraft der güti- gen Vorsehung unrecht, indem sie alle Züge der
Liebe
Moͤglichkeiten, das wirkliche Uebel zu vergroͤßern, und was nicht da iſt, zu ſchaffen. Es iſt nicht allein der gegenwaͤrtige Schlag des Schickſals, der das Herz des Leidenden verwundet; die groͤßten Schmerzen machen ihm die Angſt, die Furcht und die Sorge wegen der Folgen des itzigen Lei- dens. Was wird aus mir werden, wie wird es mir ergehen? Das iſt die gewoͤhnliche Sprache. Und wenn auch die Zahl der Freuden die des Lei- dens ſehr weit uͤberſtiege, jene werden nicht wahrgenommen vor dieſen, welche ſich in Schaa- ren vor die Seele draͤngen, und ihr den Blick ins Freye und Heitere benehmen. Der Menſch ſieht gewoͤhnlich die Dinge, wovon er umgeben iſt, durch das aus der itzigen Stimmung ſeiner Seele gefaͤrbte Glas der Phantaſie an; darum ſcheint ihm in den Stunden des Kummers der ganze Himmel in Wolken gehuͤllt zu ſeyn, und die Erde den Zorn des Himmels zu fuͤhlen. Wer hat ſich wohl nicht oft ſelbſt ſchon geſtraft, wenn der Sturm des Leidens voruͤber und das Herz in Ru- he war, daß er ſich von eitlen Phantaſien quaͤlen ließ, die wie die Voͤgel der Nacht nur ſo lange um das Herz ſchwaͤrmen, als die Vernunft ver- hindert wird, daſſelbe mit ihren wohlthaͤtigen Strahlen zu erleuchten?
Wie oft thut die Einbildungskraft der guͤti- gen Vorſehung unrecht, indem ſie alle Zuͤge der
Liebe
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Moͤglichkeiten, das wirkliche Uebel zu vergroͤßern,
und was nicht da iſt, zu ſchaffen. Es iſt nicht
allein der gegenwaͤrtige Schlag des Schickſals, der
das Herz des Leidenden verwundet; die groͤßten
Schmerzen machen ihm die Angſt, die Furcht
und die Sorge wegen der Folgen des itzigen Lei-
dens. Was wird aus mir werden, wie wird
es mir ergehen? Das iſt die gewoͤhnliche Sprache.
Und wenn auch die Zahl der Freuden die des Lei-
dens ſehr weit uͤberſtiege, jene werden nicht
wahrgenommen vor dieſen, welche ſich in Schaa-
ren vor die Seele draͤngen, und ihr den Blick ins
Freye und Heitere benehmen. Der Menſch ſieht
gewoͤhnlich die Dinge, wovon er umgeben iſt,
durch das aus der itzigen Stimmung ſeiner Seele
gefaͤrbte Glas der Phantaſie an; darum ſcheint
ihm in den Stunden des Kummers der ganze
Himmel in Wolken gehuͤllt zu ſeyn, und die Erde
den Zorn des Himmels zu fuͤhlen. Wer hat
ſich wohl nicht oft ſelbſt ſchon geſtraft, wenn der
Sturm des Leidens voruͤber und das Herz in Ru-
he war, daß er ſich von eitlen Phantaſien quaͤlen
ließ, die wie die Voͤgel der Nacht nur ſo lange
um das Herz ſchwaͤrmen, als die Vernunft ver-
hindert wird, daſſelbe mit ihren wohlthaͤtigen
Strahlen zu erleuchten?
Wie oft thut die Einbildungskraft der guͤti-
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/290>, abgerufen am 21.11.2024.
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