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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

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Vorzüglich komme man seiner moralischen
Vernunft dadurch zu Hülfe, daß man die Einbil-
dungskraft gewöhnt, sich die Bilder der Tugend
und der Gegenstände der Pflicht von der Seite
vorzustellen, welche für das Herz am anziehend-
sten ist. Man sehe die Tugend nicht als etwas
an, das die menschliche Natur erdrückt, sondern
sie erhebt. Man denke sie sich nicht als eine
finstre Tyrannin, sondern als eine erhabne
Göttin!

Weide dich daher oft an den edlen Bildern
der Tugend, die du in den Schriften alter und
neuer Weisen so häufig finden kannst.

Die Tugend, sagt Horaz, wandelt auf einem
Pfade, der dem Haufen verwehrt ist, und öfnet
denen, die der Unsterblichkeit werth sind, die
Thore des Himmels. Auf flüchtigen Fittig schwe-

bet
Das Herz muß jemand haben, der ihm ehrwürdig
ist, und dessen ehrwürdiges Beyspiel auch die ge-
heimsten Gedanken und Empfindungen heiliger ma-
che. Wohl dem, den man nicht sehn, ja an den
man nicht denken kann, ohne besser zu werden.
Wohl auch dem, deß Ehrfurcht gegen einen Mann
so groß seyn kann, daß er nach seinem Muster, das
er in Gedanken hat, sich richtet und bildet. Wer
so verehren kann, wird selbst bald ehrwürdig
werden!

Vorzuͤglich komme man ſeiner moraliſchen
Vernunft dadurch zu Huͤlfe, daß man die Einbil-
dungskraft gewoͤhnt, ſich die Bilder der Tugend
und der Gegenſtaͤnde der Pflicht von der Seite
vorzuſtellen, welche fuͤr das Herz am anziehend-
ſten iſt. Man ſehe die Tugend nicht als etwas
an, das die menſchliche Natur erdruͤckt, ſondern
ſie erhebt. Man denke ſie ſich nicht als eine
finſtre Tyrannin, ſondern als eine erhabne
Goͤttin!

Weide dich daher oft an den edlen Bildern
der Tugend, die du in den Schriften alter und
neuer Weiſen ſo haͤufig finden kannſt.

Die Tugend, ſagt Horaz, wandelt auf einem
Pfade, der dem Haufen verwehrt iſt, und oͤfnet
denen, die der Unſterblichkeit werth ſind, die
Thore des Himmels. Auf fluͤchtigen Fittig ſchwe-

bet
Das Herz muß jemand haben, der ihm ehrwuͤrdig
iſt, und deſſen ehrwuͤrdiges Beyſpiel auch die ge-
heimſten Gedanken und Empfindungen heiliger ma-
che. Wohl dem, den man nicht ſehn, ja an den
man nicht denken kann, ohne beſſer zu werden.
Wohl auch dem, deß Ehrfurcht gegen einen Mann
ſo groß ſeyn kann, daß er nach ſeinem Muſter, das
er in Gedanken hat, ſich richtet und bildet. Wer
ſo verehren kann, wird ſelbſt bald ehrwuͤrdig
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[286/0310] Vorzuͤglich komme man ſeiner moraliſchen Vernunft dadurch zu Huͤlfe, daß man die Einbil- dungskraft gewoͤhnt, ſich die Bilder der Tugend und der Gegenſtaͤnde der Pflicht von der Seite vorzuſtellen, welche fuͤr das Herz am anziehend- ſten iſt. Man ſehe die Tugend nicht als etwas an, das die menſchliche Natur erdruͤckt, ſondern ſie erhebt. Man denke ſie ſich nicht als eine finſtre Tyrannin, ſondern als eine erhabne Goͤttin! Weide dich daher oft an den edlen Bildern der Tugend, die du in den Schriften alter und neuer Weiſen ſo haͤufig finden kannſt. Die Tugend, ſagt Horaz, wandelt auf einem Pfade, der dem Haufen verwehrt iſt, und oͤfnet denen, die der Unſterblichkeit werth ſind, die Thore des Himmels. Auf fluͤchtigen Fittig ſchwe- bet *) *) Das Herz muß jemand haben, der ihm ehrwuͤrdig iſt, und deſſen ehrwuͤrdiges Beyſpiel auch die ge- heimſten Gedanken und Empfindungen heiliger ma- che. Wohl dem, den man nicht ſehn, ja an den man nicht denken kann, ohne beſſer zu werden. Wohl auch dem, deß Ehrfurcht gegen einen Mann ſo groß ſeyn kann, daß er nach ſeinem Muſter, das er in Gedanken hat, ſich richtet und bildet. Wer ſo verehren kann, wird ſelbſt bald ehrwuͤrdig werden!

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/310>, abgerufen am 21.11.2024.