Eingebildete gar keinen Begrif von solider Voll- kommenheit hat, nimmt er entweder ein Etwas, das gar keinen Werth hat, oder ein Nichts für dieselbe. Der Pöbel der Sophisten*) glaubte Allweisheit zu haben; nur ein Socrates war so aufgeklärt zu wissen, daß er nichts wisse. -- Wie die Nachtvögel scheut daher der Eingebildete die Strahlen der Aufklärung, weil vor denselben seine Vorzüge, wie der Nebel vor der Sonne, zerrinnen. Am liebsten ist er deswegen in der Gesellschaft derer, welche dummer, als er selbst, seine Einbildungen glauben, ihre Augen auf seine Person richten, oder ihr Ohr seinen Reden leihn. Er redet in einem Athem fort von seinen Vorzügen und sich, denn, weil dieselben nicht wirklich sind, muß er sich und Andre überreden, sie doch dafür zu halten. Wie das Auge, wel- ches nicht in die Ferne sieht, alles erblickt, was man ihm vorsagt, so auch der Eingebildete: er überzeugt sich von dem Daseyn aller der Vorzüge in sich, die ihm Spott oder Dummheit beylegen. Auch ist es nicht einmal nöthig ihm seine Vollkom- menheiten ausdrücklich zu nennen, denn er ist ge- neigt, alles, was er hört und sieht, für Bewei- se seiner Vorzüglichkeit anzunehmen. Wer ihn anblickt, hat ihn bewundert, wer ihm zuhört, ist
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*) Jch sage der Pöbel: denn auch unter den Sophi- sten gab es vorzügliche Männer.
Eingebildete gar keinen Begrif von ſolider Voll- kommenheit hat, nimmt er entweder ein Etwas, das gar keinen Werth hat, oder ein Nichts fuͤr dieſelbe. Der Poͤbel der Sophiſten*) glaubte Allweisheit zu haben; nur ein Socrates war ſo aufgeklaͤrt zu wiſſen, daß er nichts wiſſe. — Wie die Nachtvoͤgel ſcheut daher der Eingebildete die Strahlen der Aufklaͤrung, weil vor denſelben ſeine Vorzuͤge, wie der Nebel vor der Sonne, zerrinnen. Am liebſten iſt er deswegen in der Geſellſchaft derer, welche dummer, als er ſelbſt, ſeine Einbildungen glauben, ihre Augen auf ſeine Perſon richten, oder ihr Ohr ſeinen Reden leihn. Er redet in einem Athem fort von ſeinen Vorzuͤgen und ſich, denn, weil dieſelben nicht wirklich ſind, muß er ſich und Andre uͤberreden, ſie doch dafuͤr zu halten. Wie das Auge, wel- ches nicht in die Ferne ſieht, alles erblickt, was man ihm vorſagt, ſo auch der Eingebildete: er uͤberzeugt ſich von dem Daſeyn aller der Vorzuͤge in ſich, die ihm Spott oder Dummheit beylegen. Auch iſt es nicht einmal noͤthig ihm ſeine Vollkom- menheiten ausdruͤcklich zu nennen, denn er iſt ge- neigt, alles, was er hoͤrt und ſieht, fuͤr Bewei- ſe ſeiner Vorzuͤglichkeit anzunehmen. Wer ihn anblickt, hat ihn bewundert, wer ihm zuhoͤrt, iſt
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*) Jch ſage der Poͤbel: denn auch unter den Sophi- ſten gab es vorzuͤgliche Maͤnner.
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Eingebildete gar keinen Begrif von ſolider Voll-
kommenheit hat, nimmt er entweder ein Etwas,
das gar keinen Werth hat, oder ein Nichts fuͤr
dieſelbe. Der Poͤbel der Sophiſten *) glaubte
Allweisheit zu haben; nur ein Socrates war ſo
aufgeklaͤrt zu wiſſen, daß er nichts wiſſe. —
Wie die Nachtvoͤgel ſcheut daher der Eingebildete
die Strahlen der Aufklaͤrung, weil vor denſelben
ſeine Vorzuͤge, wie der Nebel vor der Sonne,
zerrinnen. Am liebſten iſt er deswegen in der
Geſellſchaft derer, welche dummer, als er ſelbſt,
ſeine Einbildungen glauben, ihre Augen auf
ſeine Perſon richten, oder ihr Ohr ſeinen Reden
leihn. Er redet in einem Athem fort von ſeinen
Vorzuͤgen und ſich, denn, weil dieſelben nicht
wirklich ſind, muß er ſich und Andre uͤberreden,
ſie doch dafuͤr zu halten. Wie das Auge, wel-
ches nicht in die Ferne ſieht, alles erblickt, was
man ihm vorſagt, ſo auch der Eingebildete: er
uͤberzeugt ſich von dem Daſeyn aller der Vorzuͤge
in ſich, die ihm Spott oder Dummheit beylegen.
Auch iſt es nicht einmal noͤthig ihm ſeine Vollkom-
menheiten ausdruͤcklich zu nennen, denn er iſt ge-
neigt, alles, was er hoͤrt und ſieht, fuͤr Bewei-
ſe ſeiner Vorzuͤglichkeit anzunehmen. Wer ihn
anblickt, hat ihn bewundert, wer ihm zuhoͤrt, iſt
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*) Jch ſage der Poͤbel: denn auch unter den Sophi-
ſten gab es vorzuͤgliche Maͤnner.
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/122>, abgerufen am 24.11.2024.
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