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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

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dern Gewinnst zu ziehen, Mittel anwandten, die
der Natur der unverdorbenen Völker zuwider lie-
fen; konnten sie diese freylich nicht in ihrer natür-
lichen Gestalt sehen. Sie fanden sie viehisch und
grausam, weil sie ihre Freyheit und Unschuld ge-
gen tyrannische Räuber vertheidigten. Sie sahen
in ihnen nur Halbmenschen, weil sie doch wenig-
stens einen Schein von Recht für ihr unmensch-
liches Verfahren haben wollten. Daß sich die
überfallnen Wilden an ihren hinterlistigen Feinden
zu rächen suchten, wer wird ihnen dies als Ver-
brechen in Rechnung bringen; wer von einem
Volke, das durch Gefühle regiert wird, weil es
die Gesetze der Vernunft noch nicht lesen und ver-
stehen kann, die Befolgung eines Gesetzes for-
dern, dem kaum ein Sokrates, Antonin und
Christus unter gebildeten Menschen Ansehn ver-
schaffen konnte? "Es scheint mir, sage ich mit
Vaillant, ungereimt zu seyn, daß wir die Be-
folgung unsrer künstlichen Tugenden, die wir
oft kaum dem Namen nach kennen, und die ei-
gentlich von Niemand als gültig anerkannt wor-
den, grade von diesen Naturmenschen fordern;
als wenn das Recht der Wiedervergeltung, das
zu jenen Zeiten, da wir auf den Namen Philo-
sophen noch keinen Anspruch machten, das einzi-
ge damals bey uns eingeführte war, etwas an-
ders wäre, als Beleidigung für Beleidigung zu

geben,
Ji 3

dern Gewinnſt zu ziehen, Mittel anwandten, die
der Natur der unverdorbenen Voͤlker zuwider lie-
fen; konnten ſie dieſe freylich nicht in ihrer natuͤr-
lichen Geſtalt ſehen. Sie fanden ſie viehiſch und
grauſam, weil ſie ihre Freyheit und Unſchuld ge-
gen tyranniſche Raͤuber vertheidigten. Sie ſahen
in ihnen nur Halbmenſchen, weil ſie doch wenig-
ſtens einen Schein von Recht fuͤr ihr unmenſch-
liches Verfahren haben wollten. Daß ſich die
uͤberfallnen Wilden an ihren hinterliſtigen Feinden
zu raͤchen ſuchten, wer wird ihnen dies als Ver-
brechen in Rechnung bringen; wer von einem
Volke, das durch Gefuͤhle regiert wird, weil es
die Geſetze der Vernunft noch nicht leſen und ver-
ſtehen kann, die Befolgung eines Geſetzes for-
dern, dem kaum ein Sokrates, Antonin und
Chriſtus unter gebildeten Menſchen Anſehn ver-
ſchaffen konnte? „Es ſcheint mir, ſage ich mit
Vaillant, ungereimt zu ſeyn, daß wir die Be-
folgung unſrer kuͤnſtlichen Tugenden, die wir
oft kaum dem Namen nach kennen, und die ei-
gentlich von Niemand als guͤltig anerkannt wor-
den, grade von dieſen Naturmenſchen fordern;
als wenn das Recht der Wiedervergeltung, das
zu jenen Zeiten, da wir auf den Namen Philo-
ſophen noch keinen Anſpruch machten, das einzi-
ge damals bey uns eingefuͤhrte war, etwas an-
ders waͤre, als Beleidigung fuͤr Beleidigung zu

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Ji 3
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[501/0217] dern Gewinnſt zu ziehen, Mittel anwandten, die der Natur der unverdorbenen Voͤlker zuwider lie- fen; konnten ſie dieſe freylich nicht in ihrer natuͤr- lichen Geſtalt ſehen. Sie fanden ſie viehiſch und grauſam, weil ſie ihre Freyheit und Unſchuld ge- gen tyranniſche Raͤuber vertheidigten. Sie ſahen in ihnen nur Halbmenſchen, weil ſie doch wenig- ſtens einen Schein von Recht fuͤr ihr unmenſch- liches Verfahren haben wollten. Daß ſich die uͤberfallnen Wilden an ihren hinterliſtigen Feinden zu raͤchen ſuchten, wer wird ihnen dies als Ver- brechen in Rechnung bringen; wer von einem Volke, das durch Gefuͤhle regiert wird, weil es die Geſetze der Vernunft noch nicht leſen und ver- ſtehen kann, die Befolgung eines Geſetzes for- dern, dem kaum ein Sokrates, Antonin und Chriſtus unter gebildeten Menſchen Anſehn ver- ſchaffen konnte? „Es ſcheint mir, ſage ich mit Vaillant, ungereimt zu ſeyn, daß wir die Be- folgung unſrer kuͤnſtlichen Tugenden, die wir oft kaum dem Namen nach kennen, und die ei- gentlich von Niemand als guͤltig anerkannt wor- den, grade von dieſen Naturmenſchen fordern; als wenn das Recht der Wiedervergeltung, das zu jenen Zeiten, da wir auf den Namen Philo- ſophen noch keinen Anſpruch machten, das einzi- ge damals bey uns eingefuͤhrte war, etwas an- ders waͤre, als Beleidigung fuͤr Beleidigung zu geben, Ji 3

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/217>, abgerufen am 24.11.2024.