Auch rohe Nationen äußern diese Liebe gegen ihre Kinder. Treulich sorgen, besonders die Müt- ter, mit Aufopferung ihrer eignen Bequemlich- keit, für ihre kleinen Söhne und Töchter. Wo- hin sie gehen, tragen sie sie mit sich, und fin- den in der Ernährung derselben durch ihre Brust so viel Freude, daß sie sie oft bis zum vierten Jah- re säugen. Wer verkennt die Stimme der Na- tur in diesem Klagegesang eines Grönländischen Vaters über seinen verstorbenen Sohn?
"Wehe mir, so jammert er, daß ich deinen Sitz ansehen soll, der nun leer ist! Deine Mut- ter bemüht sich vergebens, dir die Kleider zu trock- nen. Siehe, meine Freude ist ins Finstre ge- gangen, und hat sich in den Berg verkrochen. Ehedem ging ich des Abends aus, und freute mich; ich streckte meine Arme aus, und wartete auf dein Zurückkommen. Siehe, du kamst, du kamst muthig angerudert mit Jungen und Alten. Du kamst nie leer von der See, dein Kajak (Kahn) war stets mit Seehunden oder Vögeln beladen. -- Du sahest der Schaluppe rothen Wimpel von weiten, und riefest: Da kommt der Kaufmann! Du liefest an den Strand und hieltest der Schaluppe Vorderstaven, dann brach- test du deine Seehunde hervor, von welchen dei- ne Mutter den Speck abzog, und dafür bekamst du Hemden und Pfeileisen. -- Aber das alles
ist
Auch rohe Nationen aͤußern dieſe Liebe gegen ihre Kinder. Treulich ſorgen, beſonders die Muͤt- ter, mit Aufopferung ihrer eignen Bequemlich- keit, fuͤr ihre kleinen Soͤhne und Toͤchter. Wo- hin ſie gehen, tragen ſie ſie mit ſich, und fin- den in der Ernaͤhrung derſelben durch ihre Bruſt ſo viel Freude, daß ſie ſie oft bis zum vierten Jah- re ſaͤugen. Wer verkennt die Stimme der Na- tur in dieſem Klagegeſang eines Groͤnlaͤndiſchen Vaters uͤber ſeinen verſtorbenen Sohn?
„Wehe mir, ſo jammert er, daß ich deinen Sitz anſehen ſoll, der nun leer iſt! Deine Mut- ter bemuͤht ſich vergebens, dir die Kleider zu trock- nen. Siehe, meine Freude iſt ins Finſtre ge- gangen, und hat ſich in den Berg verkrochen. Ehedem ging ich des Abends aus, und freute mich; ich ſtreckte meine Arme aus, und wartete auf dein Zuruͤckkommen. Siehe, du kamſt, du kamſt muthig angerudert mit Jungen und Alten. Du kamſt nie leer von der See, dein Kajak (Kahn) war ſtets mit Seehunden oder Voͤgeln beladen. — Du ſaheſt der Schaluppe rothen Wimpel von weiten, und riefeſt: Da kommt der Kaufmann! Du liefeſt an den Strand und hielteſt der Schaluppe Vorderſtaven, dann brach- teſt du deine Seehunde hervor, von welchen dei- ne Mutter den Speck abzog, und dafuͤr bekamſt du Hemden und Pfeileiſen. — Aber das alles
iſt
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Auch rohe Nationen aͤußern dieſe Liebe gegen
ihre Kinder. Treulich ſorgen, beſonders die Muͤt-
ter, mit Aufopferung ihrer eignen Bequemlich-
keit, fuͤr ihre kleinen Soͤhne und Toͤchter. Wo-
hin ſie gehen, tragen ſie ſie mit ſich, und fin-
den in der Ernaͤhrung derſelben durch ihre Bruſt
ſo viel Freude, daß ſie ſie oft bis zum vierten Jah-
re ſaͤugen. Wer verkennt die Stimme der Na-
tur in dieſem Klagegeſang eines Groͤnlaͤndiſchen
Vaters uͤber ſeinen verſtorbenen Sohn?
„Wehe mir, ſo jammert er, daß ich deinen
Sitz anſehen ſoll, der nun leer iſt! Deine Mut-
ter bemuͤht ſich vergebens, dir die Kleider zu trock-
nen. Siehe, meine Freude iſt ins Finſtre ge-
gangen, und hat ſich in den Berg verkrochen.
Ehedem ging ich des Abends aus, und freute
mich; ich ſtreckte meine Arme aus, und wartete
auf dein Zuruͤckkommen. Siehe, du kamſt, du
kamſt muthig angerudert mit Jungen und Alten.
Du kamſt nie leer von der See, dein Kajak
(Kahn) war ſtets mit Seehunden oder Voͤgeln
beladen. — Du ſaheſt der Schaluppe rothen
Wimpel von weiten, und riefeſt: Da kommt
der Kaufmann! Du liefeſt an den Strand und
hielteſt der Schaluppe Vorderſtaven, dann brach-
teſt du deine Seehunde hervor, von welchen dei-
ne Mutter den Speck abzog, und dafuͤr bekamſt
du Hemden und Pfeileiſen. — Aber das alles
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 560. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/276>, abgerufen am 22.11.2024.
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