Wenn man etwas wahrnimmt, von dessen Ge- gentheil man ganz gewiß überzeugt war, so wird dadurch diejenige Verwunderung erzeugt, welche, um sie von andern Arten derselben zu unterschei- den, Befremdung genannt wird. Weil man bisher alle seine Vorstellungen in Beziehung auf den befremdenden Gegenstand nach seiner Ueberzeu- gung geformt hatte, so macht einen der wahrge- nommene Widerspruch irre, und scheint das gan- ze vorherige Verhältniß zu dem Gegenstande ver- ändern zu wollen. So befremdet es den Chy- miker, der von der Unmöglichkeit des Goldma- chens überzeugt ist, wenn er, indem er Andere durch den Augenschein überführen will, daß sich kein Gold erzeugt habe, in seinem Kolben Gold erblickt. So befremdet es Otto von Wittelsbach, als Ritter Friedrich von Reuß aus dem Briefe des Kaisers andre Worte liest, als dieser gelesen hatte: Was? -- so drückt er seine Befremdung aus -- Was? steht's so da? -- Der Kaiser las anders. --
Das Bewundern und Verwundern geht in Erstaunen über, wenn der Gegenstand alle unsre Gedanken allein an sich fesselt, und Verstand und Herz von ihm allein ganz gefüllt sind. Nichts reizt den Erstaunten; er nimmt nichts wahr, von dem, was um und an ihm vorgeht, sein Körper scheint in der Stellung, in welcher ihn das Er-
staunen
Wenn man etwas wahrnimmt, von deſſen Ge- gentheil man ganz gewiß uͤberzeugt war, ſo wird dadurch diejenige Verwunderung erzeugt, welche, um ſie von andern Arten derſelben zu unterſchei- den, Befremdung genannt wird. Weil man bisher alle ſeine Vorſtellungen in Beziehung auf den befremdenden Gegenſtand nach ſeiner Ueberzeu- gung geformt hatte, ſo macht einen der wahrge- nommene Widerſpruch irre, und ſcheint das gan- ze vorherige Verhaͤltniß zu dem Gegenſtande ver- aͤndern zu wollen. So befremdet es den Chy- miker, der von der Unmoͤglichkeit des Goldma- chens uͤberzeugt iſt, wenn er, indem er Andere durch den Augenſchein uͤberfuͤhren will, daß ſich kein Gold erzeugt habe, in ſeinem Kolben Gold erblickt. So befremdet es Otto von Wittelsbach, als Ritter Friedrich von Reuß aus dem Briefe des Kaiſers andre Worte lieſt, als dieſer geleſen hatte: Was? — ſo druͤckt er ſeine Befremdung aus — Was? ſteht's ſo da? — Der Kaiſer las anders. —
Das Bewundern und Verwundern geht in Erſtaunen uͤber, wenn der Gegenſtand alle unſre Gedanken allein an ſich feſſelt, und Verſtand und Herz von ihm allein ganz gefuͤllt ſind. Nichts reizt den Erſtaunten; er nimmt nichts wahr, von dem, was um und an ihm vorgeht, ſein Koͤrper ſcheint in der Stellung, in welcher ihn das Er-
ſtaunen
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Wenn man etwas wahrnimmt, von deſſen Ge-
gentheil man ganz gewiß uͤberzeugt war, ſo wird
dadurch diejenige Verwunderung erzeugt, welche,
um ſie von andern Arten derſelben zu unterſchei-
den, Befremdung genannt wird. Weil man
bisher alle ſeine Vorſtellungen in Beziehung auf den
befremdenden Gegenſtand nach ſeiner Ueberzeu-
gung geformt hatte, ſo macht einen der wahrge-
nommene Widerſpruch irre, und ſcheint das gan-
ze vorherige Verhaͤltniß zu dem Gegenſtande ver-
aͤndern zu wollen. So befremdet es den Chy-
miker, der von der Unmoͤglichkeit des Goldma-
chens uͤberzeugt iſt, wenn er, indem er Andere
durch den Augenſchein uͤberfuͤhren will, daß ſich
kein Gold erzeugt habe, in ſeinem Kolben Gold
erblickt. So befremdet es Otto von Wittelsbach,
als Ritter Friedrich von Reuß aus dem Briefe
des Kaiſers andre Worte lieſt, als dieſer geleſen
hatte: Was? — ſo druͤckt er ſeine Befremdung
aus — Was? ſteht's ſo da? — Der Kaiſer las
anders. —
Das Bewundern und Verwundern geht in
Erſtaunen uͤber, wenn der Gegenſtand alle unſre
Gedanken allein an ſich feſſelt, und Verſtand
und Herz von ihm allein ganz gefuͤllt ſind. Nichts
reizt den Erſtaunten; er nimmt nichts wahr, von
dem, was um und an ihm vorgeht, ſein Koͤrper
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/312>, abgerufen am 22.11.2024.
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