noscat ingenium, acremque se et bonorum et vitiorum suorum judicem praebeat; ne scenici plus, quam nos, videantur habere prudentiae. Illi enim non optimas, sed sibi accommodatissimas fabulas eligunt."
Das Gefühl greift oft der Vernunft vor, auch bey dem Nachahmungstriebe. Man em- pfindet einen Reiz etwas nachzuahmen, ohne ge- prüft zu haben, ob es auch nachahmungswerth sey. Genug es gefällt uns jetzt, und wir möch- ten uns gern dasselbe zulegen.
Aber man würde sehr thöricht handeln, wenn man diesem Reiz des Gefühls sogleich folgen woll- te. Denn die Ursache, daß uns dies oder jenes als etwas sehr Gutes vorkommt, liegt nicht immer in dem Dinge selbst. Es können theils zufällige Umstände die Ursache davon seyn; zum Beyspiel, wenn wir uns in einer Gesellschaft geistloser Men- schen befinden, wo ein geistloser Schwätzer und Windmacher eine Rolle spielt, kann es uns wohl vorkommen, als wenn das Schwatzen und Wind- machen doch wohl keine üble Eigenschaft sey, be- sonders wenn wir, da wir diese Kunst noch nicht verstehen, im Hintergrunde stehen müssen. Theils kann die Ursache davon auch darin liegen, daß wir den angenehmen Eindruck, welchen das To- tale des Betragens oder des Charakters eines Menschen auf uns macht, einer falschen Ursache,
zum
noſcat ingenium, acremque ſe et bonorum et vitiorum ſuorum judicem praebeat; ne ſcenici plus, quam nos, videantur habere prudentiae. Illi enim non optimas, ſed ſibi accommodatiſſimas fabulas eligunt.„
Das Gefuͤhl greift oft der Vernunft vor, auch bey dem Nachahmungstriebe. Man em- pfindet einen Reiz etwas nachzuahmen, ohne ge- pruͤft zu haben, ob es auch nachahmungswerth ſey. Genug es gefaͤllt uns jetzt, und wir moͤch- ten uns gern daſſelbe zulegen.
Aber man wuͤrde ſehr thoͤricht handeln, wenn man dieſem Reiz des Gefuͤhls ſogleich folgen woll- te. Denn die Urſache, daß uns dies oder jenes als etwas ſehr Gutes vorkommt, liegt nicht immer in dem Dinge ſelbſt. Es koͤnnen theils zufaͤllige Umſtaͤnde die Urſache davon ſeyn; zum Beyſpiel, wenn wir uns in einer Geſellſchaft geiſtloſer Men- ſchen befinden, wo ein geiſtloſer Schwaͤtzer und Windmacher eine Rolle ſpielt, kann es uns wohl vorkommen, als wenn das Schwatzen und Wind- machen doch wohl keine uͤble Eigenſchaft ſey, be- ſonders wenn wir, da wir dieſe Kunſt noch nicht verſtehen, im Hintergrunde ſtehen muͤſſen. Theils kann die Urſache davon auch darin liegen, daß wir den angenehmen Eindruck, welchen das To- tale des Betragens oder des Charakters eines Menſchen auf uns macht, einer falſchen Urſache,
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[362/0078]
noſcat ingenium, acremque ſe et bonorum
et vitiorum ſuorum judicem praebeat; ne
ſcenici plus, quam nos, videantur habere
prudentiae. Illi enim non optimas, ſed ſibi
accommodatiſſimas fabulas eligunt.„
Das Gefuͤhl greift oft der Vernunft vor,
auch bey dem Nachahmungstriebe. Man em-
pfindet einen Reiz etwas nachzuahmen, ohne ge-
pruͤft zu haben, ob es auch nachahmungswerth
ſey. Genug es gefaͤllt uns jetzt, und wir moͤch-
ten uns gern daſſelbe zulegen.
Aber man wuͤrde ſehr thoͤricht handeln, wenn
man dieſem Reiz des Gefuͤhls ſogleich folgen woll-
te. Denn die Urſache, daß uns dies oder jenes
als etwas ſehr Gutes vorkommt, liegt nicht immer
in dem Dinge ſelbſt. Es koͤnnen theils zufaͤllige
Umſtaͤnde die Urſache davon ſeyn; zum Beyſpiel,
wenn wir uns in einer Geſellſchaft geiſtloſer Men-
ſchen befinden, wo ein geiſtloſer Schwaͤtzer und
Windmacher eine Rolle ſpielt, kann es uns wohl
vorkommen, als wenn das Schwatzen und Wind-
machen doch wohl keine uͤble Eigenſchaft ſey, be-
ſonders wenn wir, da wir dieſe Kunſt noch nicht
verſtehen, im Hintergrunde ſtehen muͤſſen. Theils
kann die Urſache davon auch darin liegen, daß
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/78>, abgerufen am 21.11.2024.
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