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Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855.

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Leiden der Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums sich wie
zum Spiegelbild zusammenfaßt.

Auf der Grundlage historischer Studien das Schöne und
Darstellbare einer Epoche umspannend, darf der Roman auch
wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geschichte anerkannt
zu werden, und wer ihn achselzuckend als das Werk willkürlicher
und fälschender Laune zurückweisen wollte, der mag sich dabei
getrösten, daß die Geschichte, wie sie bei uns geschrieben zu wer-
den pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zusammenschmiedung
von Wahrem und Falschem ist, der nur zu viel Schwerfälligkeit
anklebt, als daß sie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre
Lücken spielend auszufüllen.

Wenn nicht alle Zeichen trügen, so ist unsere Zeit in einem
eigenthümlichen Läuterungsproceß begriffen.

In allen Gebieten schlägt die Erkenntniß durch, wie unsäg-
lich unser Denken und Empfinden unter der Herrschaft der Ab-
straction und der Phrase geschädigt worden; da und dort Rü-
stung zur Umkehr aus dem Abgezogenen, Blassen, Begrifflichen
zum Concreten, Farbigen, Sinnlichen, statt müßiger Selbstbe-
schauung des Geistes Beziehung auf Leben und Gegenwart,
statt Formeln und Schablonen naturgeschichtliche Analyse, statt
der Kritik schöpferische Production, und unsere Enkel erleben
vielleicht noch die Stunde, wo man von manchem Koloß seit-
heriger Wissenschaft mit der gleichen lächelnden Ehrfurcht spricht,
wie von den Resten eines vorsündfluthlichen Riesengethieres, und
wo man ohne Gefahr, als Barbar verschrieen zu werden, be-
haupten darf, in einem Steinkrug alten Weines ruhe nicht we-

Leiden der Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums ſich wie
zum Spiegelbild zuſammenfaßt.

Auf der Grundlage hiſtoriſcher Studien das Schöne und
Darſtellbare einer Epoche umſpannend, darf der Roman auch
wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geſchichte anerkannt
zu werden, und wer ihn achſelzuckend als das Werk willkürlicher
und fälſchender Laune zurückweiſen wollte, der mag ſich dabei
getröſten, daß die Geſchichte, wie ſie bei uns geſchrieben zu wer-
den pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zuſammenſchmiedung
von Wahrem und Falſchem iſt, der nur zu viel Schwerfälligkeit
anklebt, als daß ſie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre
Lücken ſpielend auszufüllen.

Wenn nicht alle Zeichen trügen, ſo iſt unſere Zeit in einem
eigenthümlichen Läuterungsproceß begriffen.

In allen Gebieten ſchlägt die Erkenntniß durch, wie unſäg-
lich unſer Denken und Empfinden unter der Herrſchaft der Ab-
ſtraction und der Phraſe geſchädigt worden; da und dort Rü-
ſtung zur Umkehr aus dem Abgezogenen, Blaſſen, Begrifflichen
zum Concreten, Farbigen, Sinnlichen, ſtatt müßiger Selbſtbe-
ſchauung des Geiſtes Beziehung auf Leben und Gegenwart,
ſtatt Formeln und Schablonen naturgeſchichtliche Analyſe, ſtatt
der Kritik ſchöpferiſche Production, und unſere Enkel erleben
vielleicht noch die Stunde, wo man von manchem Koloß ſeit-
heriger Wiſſenſchaft mit der gleichen lächelnden Ehrfurcht ſpricht,
wie von den Reſten eines vorſündfluthlichen Rieſengethieres, und
wo man ohne Gefahr, als Barbar verſchrieen zu werden, be-
haupten darf, in einem Steinkrug alten Weines ruhe nicht we-

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[IV/0014] Leiden der Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums ſich wie zum Spiegelbild zuſammenfaßt. Auf der Grundlage hiſtoriſcher Studien das Schöne und Darſtellbare einer Epoche umſpannend, darf der Roman auch wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geſchichte anerkannt zu werden, und wer ihn achſelzuckend als das Werk willkürlicher und fälſchender Laune zurückweiſen wollte, der mag ſich dabei getröſten, daß die Geſchichte, wie ſie bei uns geſchrieben zu wer- den pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zuſammenſchmiedung von Wahrem und Falſchem iſt, der nur zu viel Schwerfälligkeit anklebt, als daß ſie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre Lücken ſpielend auszufüllen. Wenn nicht alle Zeichen trügen, ſo iſt unſere Zeit in einem eigenthümlichen Läuterungsproceß begriffen. In allen Gebieten ſchlägt die Erkenntniß durch, wie unſäg- lich unſer Denken und Empfinden unter der Herrſchaft der Ab- ſtraction und der Phraſe geſchädigt worden; da und dort Rü- ſtung zur Umkehr aus dem Abgezogenen, Blaſſen, Begrifflichen zum Concreten, Farbigen, Sinnlichen, ſtatt müßiger Selbſtbe- ſchauung des Geiſtes Beziehung auf Leben und Gegenwart, ſtatt Formeln und Schablonen naturgeſchichtliche Analyſe, ſtatt der Kritik ſchöpferiſche Production, und unſere Enkel erleben vielleicht noch die Stunde, wo man von manchem Koloß ſeit- heriger Wiſſenſchaft mit der gleichen lächelnden Ehrfurcht ſpricht, wie von den Reſten eines vorſündfluthlichen Rieſengethieres, und wo man ohne Gefahr, als Barbar verſchrieen zu werden, be- haupten darf, in einem Steinkrug alten Weines ruhe nicht we-

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Zitationshilfe: Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855, S. IV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/14>, abgerufen am 21.11.2024.