Leiden der Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums sich wie zum Spiegelbild zusammenfaßt.
Auf der Grundlage historischer Studien das Schöne und Darstellbare einer Epoche umspannend, darf der Roman auch wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geschichte anerkannt zu werden, und wer ihn achselzuckend als das Werk willkürlicher und fälschender Laune zurückweisen wollte, der mag sich dabei getrösten, daß die Geschichte, wie sie bei uns geschrieben zu wer- den pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zusammenschmiedung von Wahrem und Falschem ist, der nur zu viel Schwerfälligkeit anklebt, als daß sie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre Lücken spielend auszufüllen.
Wenn nicht alle Zeichen trügen, so ist unsere Zeit in einem eigenthümlichen Läuterungsproceß begriffen.
In allen Gebieten schlägt die Erkenntniß durch, wie unsäg- lich unser Denken und Empfinden unter der Herrschaft der Ab- straction und der Phrase geschädigt worden; da und dort Rü- stung zur Umkehr aus dem Abgezogenen, Blassen, Begrifflichen zum Concreten, Farbigen, Sinnlichen, statt müßiger Selbstbe- schauung des Geistes Beziehung auf Leben und Gegenwart, statt Formeln und Schablonen naturgeschichtliche Analyse, statt der Kritik schöpferische Production, und unsere Enkel erleben vielleicht noch die Stunde, wo man von manchem Koloß seit- heriger Wissenschaft mit der gleichen lächelnden Ehrfurcht spricht, wie von den Resten eines vorsündfluthlichen Riesengethieres, und wo man ohne Gefahr, als Barbar verschrieen zu werden, be- haupten darf, in einem Steinkrug alten Weines ruhe nicht we-
Leiden der Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums ſich wie zum Spiegelbild zuſammenfaßt.
Auf der Grundlage hiſtoriſcher Studien das Schöne und Darſtellbare einer Epoche umſpannend, darf der Roman auch wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geſchichte anerkannt zu werden, und wer ihn achſelzuckend als das Werk willkürlicher und fälſchender Laune zurückweiſen wollte, der mag ſich dabei getröſten, daß die Geſchichte, wie ſie bei uns geſchrieben zu wer- den pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zuſammenſchmiedung von Wahrem und Falſchem iſt, der nur zu viel Schwerfälligkeit anklebt, als daß ſie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre Lücken ſpielend auszufüllen.
Wenn nicht alle Zeichen trügen, ſo iſt unſere Zeit in einem eigenthümlichen Läuterungsproceß begriffen.
In allen Gebieten ſchlägt die Erkenntniß durch, wie unſäg- lich unſer Denken und Empfinden unter der Herrſchaft der Ab- ſtraction und der Phraſe geſchädigt worden; da und dort Rü- ſtung zur Umkehr aus dem Abgezogenen, Blaſſen, Begrifflichen zum Concreten, Farbigen, Sinnlichen, ſtatt müßiger Selbſtbe- ſchauung des Geiſtes Beziehung auf Leben und Gegenwart, ſtatt Formeln und Schablonen naturgeſchichtliche Analyſe, ſtatt der Kritik ſchöpferiſche Production, und unſere Enkel erleben vielleicht noch die Stunde, wo man von manchem Koloß ſeit- heriger Wiſſenſchaft mit der gleichen lächelnden Ehrfurcht ſpricht, wie von den Reſten eines vorſündfluthlichen Rieſengethieres, und wo man ohne Gefahr, als Barbar verſchrieen zu werden, be- haupten darf, in einem Steinkrug alten Weines ruhe nicht we-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0014"n="IV"/>
Leiden der Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums ſich wie<lb/>
zum Spiegelbild zuſammenfaßt.</p><lb/><p>Auf der Grundlage hiſtoriſcher Studien das Schöne und<lb/>
Darſtellbare einer Epoche umſpannend, darf der Roman auch<lb/>
wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geſchichte anerkannt<lb/>
zu werden, und wer ihn achſelzuckend als das Werk willkürlicher<lb/>
und fälſchender Laune zurückweiſen wollte, der mag ſich dabei<lb/>
getröſten, daß die Geſchichte, wie ſie bei uns geſchrieben zu wer-<lb/>
den pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zuſammenſchmiedung<lb/>
von Wahrem und Falſchem iſt, der nur zu viel Schwerfälligkeit<lb/>
anklebt, als daß ſie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre<lb/>
Lücken ſpielend auszufüllen.</p><lb/><p>Wenn nicht alle Zeichen trügen, ſo iſt unſere Zeit in einem<lb/>
eigenthümlichen Läuterungsproceß begriffen.</p><lb/><p>In allen Gebieten ſchlägt die Erkenntniß durch, wie unſäg-<lb/>
lich unſer Denken und Empfinden unter der Herrſchaft der Ab-<lb/>ſtraction und der Phraſe geſchädigt worden; da und dort Rü-<lb/>ſtung zur Umkehr aus dem Abgezogenen, Blaſſen, Begrifflichen<lb/>
zum Concreten, Farbigen, Sinnlichen, ſtatt müßiger Selbſtbe-<lb/>ſchauung des Geiſtes Beziehung auf Leben und Gegenwart,<lb/>ſtatt Formeln und Schablonen naturgeſchichtliche Analyſe, ſtatt<lb/>
der Kritik ſchöpferiſche Production, und unſere Enkel erleben<lb/>
vielleicht noch die Stunde, wo man von manchem Koloß ſeit-<lb/>
heriger Wiſſenſchaft mit der gleichen lächelnden Ehrfurcht ſpricht,<lb/>
wie von den Reſten eines vorſündfluthlichen Rieſengethieres, und<lb/>
wo man ohne Gefahr, als Barbar verſchrieen zu werden, be-<lb/>
haupten darf, in einem Steinkrug alten Weines ruhe nicht we-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[IV/0014]
Leiden der Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums ſich wie
zum Spiegelbild zuſammenfaßt.
Auf der Grundlage hiſtoriſcher Studien das Schöne und
Darſtellbare einer Epoche umſpannend, darf der Roman auch
wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geſchichte anerkannt
zu werden, und wer ihn achſelzuckend als das Werk willkürlicher
und fälſchender Laune zurückweiſen wollte, der mag ſich dabei
getröſten, daß die Geſchichte, wie ſie bei uns geſchrieben zu wer-
den pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zuſammenſchmiedung
von Wahrem und Falſchem iſt, der nur zu viel Schwerfälligkeit
anklebt, als daß ſie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre
Lücken ſpielend auszufüllen.
Wenn nicht alle Zeichen trügen, ſo iſt unſere Zeit in einem
eigenthümlichen Läuterungsproceß begriffen.
In allen Gebieten ſchlägt die Erkenntniß durch, wie unſäg-
lich unſer Denken und Empfinden unter der Herrſchaft der Ab-
ſtraction und der Phraſe geſchädigt worden; da und dort Rü-
ſtung zur Umkehr aus dem Abgezogenen, Blaſſen, Begrifflichen
zum Concreten, Farbigen, Sinnlichen, ſtatt müßiger Selbſtbe-
ſchauung des Geiſtes Beziehung auf Leben und Gegenwart,
ſtatt Formeln und Schablonen naturgeſchichtliche Analyſe, ſtatt
der Kritik ſchöpferiſche Production, und unſere Enkel erleben
vielleicht noch die Stunde, wo man von manchem Koloß ſeit-
heriger Wiſſenſchaft mit der gleichen lächelnden Ehrfurcht ſpricht,
wie von den Reſten eines vorſündfluthlichen Rieſengethieres, und
wo man ohne Gefahr, als Barbar verſchrieen zu werden, be-
haupten darf, in einem Steinkrug alten Weines ruhe nicht we-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855, S. IV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/14>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.